Das Mädchen: Roman (German Edition)
Heimleiter sagt, ich soll dir kein Wort glauben, du seist ein besonders tückisches Exemplar, ein ausgekochtes Luder, eine Schande für das Heim.
Eine Schande für das Heim? Sie schluckt schwer, versteht gar nichts mehr.
Das muss eine Verwechslung sein, sagt sie.
Ach ja? Die Dicke schaut in die Luft und ist keiner Erklärung mehr zugänglich, sie wedelt mit den Händen, als wolle sie Mücken verscheuchen, steht wie eine Wand vor ihr – eine Wand aus Fett, denkt sie wütend, und die Ungerechtigkeit schnürt ihr die Luft ab.
Die dicke Frau scheint ebenfalls wütend zu sein. Wir werden ja sehen, sagt sie, in einem Ton, als sei sie gekränkt, enttäuscht worden und als habe sie deshalb ein Recht auf ihre Wut.
Sie wird von der Dicken unsanft am Ellbogen die Treppe hochgeführt, an Jugendlichen vorbei, die sie neugierig anstarren. Sie gehen einen Gang entlang, dann schließt die Dicke eine Tür auf und bedeutet ihr einzutreten. Sie hört, wie die Tür hinter ihr zugeschlagen und abgeschlossen wird, als sie sich umdreht, ist sie allein. Die Zelle ist düster, die schmutzige Glasscheibe vergittert, an der Wand steht eine Pritsche, daneben ein Eimer zum Pissen. Sie stellt sich vor das geschlossene Fenster, sieht durch die Gitterstäbe auf ein flaches Dach, an dessen Seiten in der Sonne blinkende Glasscherben befestigt sind. Wieso ist sie hier? Warum darf sie ihren Bruder Elvis nicht sehen? Sie beginnt zu heulen, heult laut und hemmungslos. Was hat sie verbrochen? In ihren Ohren rauscht es. Wofür wird sie bestraft?
Sie hört ein Schaben, Wispern, Lachen, das Guckloch wird an der Außentür geöffnet, doch als sie zur Tür geht, kann sie niemanden erkennen. Der Tränenschleier verstellt ihr den Blick, und die Perspektive durch das Glasloch ist verwirrend. Sie setzt sich auf das Bett, spürt einen ekligen Geschmack im Mund und einen nagenden Hunger. Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln liegt in der Luft, sie fühlt sich schwindlig. Sie will hier nicht sein.
[Menü]
18
Als sie ins Kinderheim zurückkommt, steht ihr Name auf der Liste der negativen Kinder. Am ersten Tag nach den Ferien nimmt sich Herr Nissen Zeit, sie vorzuführen, schildert beim Appell ausführlich ihre Vergehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hört sie sich alles an, während sie mit der Zunge die übelsten Schimpfwör-ter an ihren Gaumen schreibt: Arschkrampe, Bazille, Asselarsch.
Ungerecht behandelt zu werden ist ihr vertraut, doch dieser Zorn darüber ist für sie neu. Die Einsicht, dass sie nicht liebenswert ist, erfüllt sie nun mit trotziger Aufsässigkeit.
Als August Kreische das nächste Mal ihren Nachtisch einfordert, ist sie fest entschlossen, sich das nicht gefallen zu lassen. Ruhig sieht sie ihm entgegen, duckt sich weg unter seiner Faust, nutzt seine Überraschung und springt ihn an. Sie reißt an seinen Haaren, kratzt, spuckt, pariert seine Schläge. Ihr Atem geht wild, sie kann gar nicht mehr aufhören, um sich zu schlagen. Sie ist schneller, wendiger als der Fettsack, und sie ist böse.
Ihr Ansehen bei den Mädchen ist gestiegen, und sie entdeckt, dass sie andere zum Lachen bringen kann, sie erfindet ständig neuen Unsinn. Sie parodiert die Schwächen der Erzieherinnen, macht den Heimleiter nach, seine Angewohnheit, die Augen leicht nach oben zu rollen, oder seinen steifbeinigen Watschelgang. Sie beendet seine langsamen Sätze, die manchmal in der Luft hängen bleiben, setzt unter dem Gekicher der Mädchen die irrsinnigsten Satzbrocken in die Lücken. Wir alle haben das Ziel, sagt er beispielsweise, und sie fügt hinzu: eine Gemeinschaft von Idioten aufzubauen.
Die Mädchen wollen ihre Geheimnisse mit ihr teilen; es freut sie, und gleichzeitig ist sie eingeschüchtert durch das Vertrauen, das die Mädchen ihr plötzlich entgegenbringen. Als sie von sich erzählen soll, findet sie zuerst keine Worte, doch dann denkt sie sich Geschichten aus, erzählt vom einem aus dem Irrenhaus entflohenen Verrückten, der sie verschleppt und tagelang in einer Höhle gefangen gehalten hat. Die entsetzten Blicke ihrer Zuhörerinnen empfindet sie wie einen Ritterschlag. Darauf bedacht, das Entsetzen in den Gesichtern zu halten, lässt sie sich bereitwillig ausfragen, schildert furchterregende Details. Als sie sieht, dass die Mädchen ihr glauben, sind die Geschichten auch für sie wahr. Die Jungs beäugen sie misstrauisch, und obwohl sie versucht, so finster auszuschauen, als würde sie ihren Tod planen, wünscht sie sich, die Jungs
Weitere Kostenlose Bücher