Das Mädchen: Roman (German Edition)
Gebiss, sagt sie, vergess ich immer.
Radattes Mutter setzt sich auf ein zerschlissenes rotes Samtsofa, bietet ihr den Platz neben sich an und beginnt mit flacher, tonloser Stimme zu reden; erzählt von ihrem Mann, der Geburt von Radatte, ihrer eigenen Kindheit, unterbricht sich nur, um einen Schluck aus der Bierflasche zu trinken. Radattes Mutter redet unentwegt, und sie nickt, als wäre sie ein lang erwarteter Gast und nur hierhergekommen, um ihr zuzuhören. Später holt die Frau ein Stück Hackbraten aus der Küche, kannste aufessen, sagt sie, während sie selbst nichts anrührt. Gegen Mitternacht stehen viele leere Bierflaschen auf dem Boden. Radattes Mutter ist völlig betrunken, und obwohl ihr die Worte wegrutschen, redet sie noch immer. Irgendetwas muss sie ihr mitteilen wollen, eine wichtige Botschaft – würde die Frau nicht sonst endlich den Mund halten? Ihr fallen die Augen zu, ihr Kopf sinkt auf die Sofalehne, und noch im Halbschlaf umhüllt sie das lallende Gemurmel.
Als sie frühmorgens erwacht, leuchtet es hell, sie sieht vor dem Fenster große Schneeflocken durch die Luft taumeln. Sie betrachtet die Bierdeckel an den Wänden, die aus der ganzen Welt stammen, auf einigen der runden Pappdeckel entdeckt sie sogar chinesische Schriftzüge. Auch die Toilette ist mit Bierdeckeln tapeziert; sie versucht die Spülung leise zu ziehen, doch als sie das Wohnzimmer betritt, steht Radattes Mutter vor ihr. Sie sieht immer noch betrunken aus, ihre Augen liegen tief in den Höhlen, ihr Gesicht ist kalkweiß. Doch es scheint nichts mehr zu geben, worüber sie sprechen will, ohne ein Wort verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer. Der Schnee knallt inzwischen als heftiger, weißer Regen an die Fensterscheiben. Sie geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, nimmt sich eine Limo heraus, schlendert durch die Wohnung. Ihr fröstelt, sie berührt die kalten Ofenkacheln, versucht sich Radatte hier vorzustellen. Nach einer Weile zieht sie sich an und geht auf die Straße.
Den Vormittag verbringt sie im Zeitkino, dann streift sie durch den Bahnhof, steht vor der Mitropa und sieht hinter der schweren Glastür ihre Mutter. Die Mutter trägt einen Minirock unter der weißen Schürze, in ihrer hochtoupierten Frisur steckt ein glitzernder Haarreif, und sie lächelt – diese Mutter kommt ihr unwirklich vor. Was würde geschehen, wenn sie ihr winken würde und laut rufen: Hallo, ich bin’s, deine Tochter. Sie will es lieber nicht darauf ankommen lassen.
Es ist Mittagszeit. An einem Kiosk lässt sie Schokolade und Kekse mitgehen, und als sie überlegt, sich noch einmal im Zeitkino aufzuwärmen, steht ein Polizist vor ihr. Sie gibt einen falschen Namen an, bleibt auch auf dem Bahnhofsrevier stur bei ihrer Behauptung, sie sei Mercedes, die Verlobte von Edmond Dantès.
Welche Geschichte hat sie sich denn diesmal ausgedacht, fragt die Dicke bei ihrer Ankunft in der Nebelgasse den Polizisten. Ihr fleischiges Gesicht bleibt ausdruckslos, als er ihr von dem falschen Namen erzählt.
Ich weiß, wie sie heißt, sagt sie und zieht spöttisch die Augenbrauen hoch, sie ist ein ganz schön ausgekochtes Luder.
Ein Luder, wiederholt der Polizist.
Wir sind also wieder einmal abgehauen, sagt die Dicke.
Sie antwortet nicht, nur ihr Magen gibt ein knurrendes Geräusch von sich.
Während die Dicke spricht, zerhackt ihr ausgestreckter Zeigefinger die Luft, als sei die Luft ihr persönlicher Feind.
Sie hat keine Ahnung gehabt, dass sie so viele Vorschriften übertreten hat, dass es überhaupt so viele Vorschriften gibt, sie nickt, als hätte sie verstanden, dabei will sie nur ihre Ruhe. Sie hasst die Dicke, sie spürt den Hass wie einen dumpfen Druck in ihrem Bauch.
Heiligabend sitzt sie auf der Pritsche, allein in einer Zelle, blasses Licht dringt durch das vergitterte Fenster, Weihnachtslieder schallen durch den Flur, sie möchte sich am liebsten die Ohren zuhalten. Das Essen hat sie nicht angerührt, einen Apfel und ein Stück Weihnachtsstollen. Sie hockt sich über den grauen Blecheimer und pinkelt, überhört die gedämpften Stimmen hinter der Tür, genauso versucht sie das Knurren in ihrem Magen zu überhören. Sie nimmt den Apfel vom Teller und wirft ihn an die Wand, betrachtet höhnisch den Fleck, den er auf der grauen Farbschicht hinterlassen hat. Den Weihnachtsstollen zerbröselt sie, verteilt die Krümel über den Boden. Sie spürt einen großen Zorn, stellt sich vor, ihrem Heimleiter ein Messer in den fetten Bauch zu rammen und
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