Das Mädchen und der Zauberer
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Sie freute sich auf ihr neues Leben.
Wenn sie neues Leben dachte, war sie in Gedanken bei den wenigen Sekunden, in denen es begonnen hatte, als René im Fischrestaurant am Hafen, beim Zerteilen einer Seezunge, Müllerin Art, also herrlich braun in Butter gebacken, mit großem Ernst zu ihr sagte: »Willst du mich heiraten?« Und sie antwortete ebenso ernst, in der Glasschüssel mit Gurken- und Tomatensalat rührend: »Ja!«
Eine völlig verrückte Situation, die auch dadurch nicht normaler wurde, daß René daraufhin eine Flasche Champagner bestellte, sie sich zuprosteten, mit strahlenden Augen beteuerten: »Ich liebe dich, Petra!« – »Ich liebe dich, René!« Dann aßen sie ihre Seezunge weiter. »Bei uns schmeckt sie besser!« sagte René auch noch und tippte mit der Gabel auf den filierten Fisch. »Liegt's an der Butter oder an den kreolischen Gewürzen, oder ist es eine andere Seezunge? Ma chérie – bei uns gibt es die köstlichste Küche der Welt.«
Bei uns … das war nun das Wort, das für sie das neue Leben bedeutete. Es lag weit weg, zwischen Nord- und Südamerika, im großen Bogen der Inselkette, die man Karibische Inseln nennt, im Traumparadies für Europäer, mit weißsandigen Stränden, im warmen Wind wogenden Palmenwäldern, Kalypsomusik und Steel-Bands, unendlich blauem Himmel und ebenso unendlich blauem Meer, Korallen und Vulkaninseln, undurchdringlichen Regenwäldern und Zuckerrohr und Ananas, so weit man sehen konnte. Das alles stand in den Prospekten, die sie ausgab, sah man auf den bunten Plakaten, die an den Wänden hingen, schilderten die Reiseinformationen, und das alles erzählte sie deshalb auch den Kunden, die sich dafür interessierten. Daß all dieser Zauber nun ihr neues Leben sein sollte, kam ihr erst voll zum Bewußtsein, als sie auf Renés Frage sofort mit Ja geantwortet hatte.
Schon der Beginn der totalen Veränderung ihres Lebens war – vorsichtig ausgedrückt – recht ungewöhnlich. Sie hatte wie jeden Tag hinter ihrem weißen Kunststoffschreibtisch gesessen und die Post bearbeitet, Anfragen und Bestellungen. Morgens um 9 Uhr war noch kein starker Publikumsverkehr, vor allem nicht in der Abteilung Fernreisen, es blieb also Zeit genug, die Briefe zu lesen und zu ordnen. Sie waren in der Poststelle vorsortiert worden, jede Abteilung bekam den Korb mit ihrer Post und war so auch für die Kundenwünsche voll verantwortlich.
Das Reisebüro Erdkreis-Tours war trotz seines Namens ein kleines Unternehmen mit vier angestellten Damen, für den Schalterdienst, einer Stenotypistin und einem Chef, der Willibald Rangel hieß und vielleicht wegen dieses Namens kaum in Erscheinung trat. Er saß in einem hinteren Zimmer und kam nur heraus, wenn eine der Damen meldete: »Hier ist ein Kunde, der möchte nach Mexiko, aber er hat Angst vorm Fliegen, und auf dem Schiff wird er seekrank. Was soll ich ihm sagen?« Dann war Rangel da mit dem uralten Witz: »Das letzte Fahrrad nach Mexiko ist schon unterwegs.«
Petra Herwarth arbeitete seit fünf Jahren bei Erdkreis-Tours. Sie hatte bei Bahnreisen Zwischen Nordsee und Alpen angefangen und sich bis zu den Fernreisen emporgearbeitet, und wenn Willibald Rangel auf Touristikkongressen oder auf Inspektionsreisen war, um neue Hotels, Strände oder Bergwiesen unter Vertrag zu nehmen, leitete sie sogar den Betrieb.
In Hamburg war das gar nicht so einfach, vor allem, wenn man wie Petra Herwarth ein wirklich hübsches Mädchen war, mit langen blonden Haaren, großen blauen Augen und einer Figur wie man sie in Romanen beschreibt. Mindestens einmal am Tag geschah es, daß ein Mann sich zu ihr hinüberbeugte, sie anblinzelte und sagte: »Kann man bei Ihnen auch einen Bummel zu zweit buchen? Heute Abend, na, wie wär's?« Oder es saßen ihr Männer gegenüber, blätterten in den bunten Prospekten und bemerkten dann lässig: »Das wäre es. Acapulco. Hotel Juárez. Eine Suite. Vierzehn Tage für zwei Personen … Sie haben doch vierzehn Tage Zeit, nicht wahr?« Es waren Anträge, über die sich Petra Herwarth schon nicht mehr aufregte.
An diesem frühen Morgen betrat ein Mann das Lokal der Erdkreis-Tours, fragte am ersten Tisch und wurde zu Petra Herwarth verwiesen. Mit einem Akzent, der ihn als Franzosen auswies, sagte er mit einer höflichen kleinen Verbeugung: »Guten Morgen, man schickt mich zu Ihnen. Sie sind zuständig für Karibik?« und setzte sich auf den Stuhl. Petra schob den Postkorb zur Seite und nickte.
»Haben Sie eine feste Vorstellung,
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