Das Magdalena-Evangelium: Roman
dieser Erkenntnis über sie herein.
Dann setzte der Mob sich wieder in Bewegung, und Maureen ertrank in einem Meer aus Schweiß und Verzweiflung.
Maureen blinzelte und kniff ein paar Sekunden lang die Augen zusammen. Forsch schüttelte sie den Kopf, um wieder klar sehen zu können, unsicher, wo sie sich befand. Ein Blick auf ihre Jeans hinunter, ihren Mikrofaserrucksack und ihre Nike-Schuhe versicherten ihr, dass sie wieder im 21. Jahrhundert angekommen war. Um sie herum herrschte weiterhin das geschäftige Treiben der Altstadt, doch die Menschen trugen nun moderne Kleidung, und auch die Geräusche waren anders. Radio Jordan spielte einen amerikanischen Popsong – war das »Losing My Religion« von REM ? –, der aus einem Geschäft auf der anderen Straßenseite dröhnte. Ein palästinensischer Teenager vertrieb sich die Zeit damit, im Rhythmus dazu auf der Ladentheke zu trommeln. Er lächelte sie an, ohne einen Takt zu verpassen.
Maureen erhob sich von der Bank und versuchte, die Vision abzuschütteln – falls es denn eine gewesen war. Sie war nicht sicher, was genau sie gerade erlebt hatte, doch sie konnte es sich auch nicht erlauben, länger darüber nachzudenken. Ihre Zeit in Jerusalem war begrenzt, und sie musste sich noch die Sehenswürdigkeiten von zweitausend Jahren ansehen. Also griff sie auf ihre journalistische Disziplin zurück und eine lebenslange Erfahrung darin, ihre Gefühle zu unterdrücken, legte die Vision unter »zur späteren Analyse« ab und zwang sich weiterzugehen.
Maureen verschmolz mit einem Schwarm britischer Touristen, als diese, angeführt von einem Mann mit dem typischen Kragen eines anglikanischen Priesters, um die Ecke bogen. Der Priester verkündete seiner Pilgergruppe, dass sie sich dem heiligsten Ort der Christenheit näherten: der Grabeskirche.
Maureen wusste aus ihren Recherchen, dass sich die restlichenKreuzwegstationen im Inneren dieses geweihten Gebäudekomplexes befanden. Die Anlage bestand aus mehreren Teilen, wobei der Ort der Kreuzigung in der eigentlichen Basilika unweit des Christusgrabes lag, und zwar schon seit Kaiserin Helena im vierten Jahrhundert geschworen hatte, diesen heiligen Boden zu beschützen. Helena, die zugleich die Mutter Kaiser Konstantins des Großen war, wurde später für ihre Mühen zur Heiligen erhoben.
Langsam und ein wenig zögernd näherte sich Maureen der riesigen Eingangstür. Als sie auf der Schwelle stand, wurde ihr bewusst, dass sie schon seit Jahren in keiner Kirche mehr gewesen war, und der Gedanke, jetzt etwas daran zu ändern, bereitete ihr irgendwie Unbehagen. Sie rief sich vor Augen, dass die Nachforschungen, die sie hierher nach Israel geführt hatten, wissenschaftlicher und weniger spiritueller Natur waren. Solange sie das Ganze aus dieser Perspektive betrachtete, hatte sie kein Problem. Kein Problem, durch diese Tür zu gehen.
Auch wenn Maureen sich dagegen sträubte, der kolossale Schrein war zweifelsohne ehrfurchtgebietend und besaß eine geradezu magnetische Anziehungskraft. Als sie durch die riesige Tür trat, hörte sie die Stimme des englischen Priesters:
»Innerhalb dieser Mauern werden Sie sehen, wo unser Herr das größte Opfer dargebracht hat. Sie werden sehen, wo man ihn seiner Kleider beraubt und ihn ans Kreuz geschlagen hat. Anschließend werden Sie das heilige Grab betreten. Meine Brüder und Schwestern in Christo, sobald Sie diesen Ort betreten, wird Ihr Leben nie wieder dasselbe sein.«
Der schwere und unverkennbare Geruch von Weihrauch wehte Maureen entgegen, als sie die Basilika betrat. Pilger aus allen Ecken der Christenheit füllten die riesigen Räume innerhalb der Kirchenanlage. Maureen ging an einer Gruppe koptischerPriester vorbei, die in ehrfürchtigem Disput beieinanderhockten, und beobachtete einen griechisch-orthodoxen Priester, der in einer der kleinen Seitenkapellen Kerzen entzündete. Ein Männerchor sang in einer östlichen Sprache, ein exotisches Geräusch für westliche Ohren, und der Gesang hallte in der ganzen Kirche wider.
Maureen sog den überwältigenden Anblick und die Geräusche dieses Ortes förmlich auf; es war schlicht zu viel, als dass sie sich auf irgendetwas im Besonderen hätte konzentrieren können. So bemerkte sie auch den drahtigen, kleinen Mann nicht, der sich neben sie schob, bis er ihr auf die Schulter tupfte und sie unwillkürlich zusammenzuckte.
»’tschuldigen Sie, Miss. ’tschuldigen, Miss Mo-ree.« Er sprach Englisch, doch im Gegensatz zu dem rätselhaften
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