Das Magdalena-Evangelium: Roman
verwoben hatte. Dieses Unterfangen muss eine geraume Zeit in Anspruch genommen haben. Denn als mein Erstgeborener mich verließ und mit Petrus und Andreas nach Rom ging, trauerte er heftiger um Isa als alle anderen, er beweinte den Verlust seines Vaters ebenso wie Tamar und ich. Isa war der einzige Vater, den er je gekannt hatte, und sicherlich sein größter und geduldigster Lehrer. Schon als Johannes noch ein Baby war, hatte Isa ihn oft als »geliebtesten Jünger« bezeichnet und die große Hoffnung gehegt, Johannes werde eines Tages der Anführer und Lehrer des Rechten Weges sein, eine Aufgabe, zu der er als Sohn zweier großer Propheten prädestiniert war.
Doch nun sind sein einst so reines Herz, seine Seele und sein Geist derart verwandelt worden, dass ich ihn nicht mehr zu erkennen vermag.
Welche Dunkelheit lebt in diesen Männern, dass sie den Kopf meines wunderbaren Sohnes mit solchem Hass erfüllen? Dass sie die Wahrheit dermaßen verdrehen und Isa als Lügner hinstellen? Dass sie einen jungen Mann seines Vaters berauben, eines Vaters, der ihn immer wie ein eigenes Kind anerkannt hat? Die Anhänger des Täufers haben Isa den »schlechten Priester« genannt und seine Ehe mit mir als unrein bezeichnet. Und auch unsere Kinder haben sie mit abscheulichen Namen belegt, obwohl sie Johannes’ Bruder und Schwester sind.
Einmal reiste Tamar zu Johannes, und er wollte sie nicht einmal sehen, weil sie zu seiner verachteten Verwandtschaft zählt. Ich jedoch glaube fest, dass er auf Befehl jener Männer handelte, die Macht über ihn haben. Unsere Tamar ist so schön und ihre Reinheit als Prophetin eine Legende, die sich bis in jene Lande verbreitet hat. Wenn Johannes nur ein wenig Zeit mit ihr verbrächte, würde er wieder zur Besinnung kommen. Ihm würde bewusst werden, dass seine jetzigen Lehrer Lügner sind, gefesselt an eine Doktrin von Selbstgerechtigkeit und Intoleranz. Tamar würde erreichen, dass sich ihre Indoktrinationenin Nichts auflösen, sie würde Johannes an die Kraft des Rechten Weges erinnern, an die Wahrheit, die allein aus Liebe und Vergebung erwächst. Meine Tochter führt Isas Vollkommenheit in weiblicher Form fort. Seine Gegenwart erfüllt sie wie ein Licht, das selbst die letzten Bastionen der Dunkelheit erleuchtet.
Ich habe mein Bestes getan, um meinem Sohn begreiflich zu machen, dass Isa ihn liebte wie sein eigenes Kind, und dass auch ich ihn über alles liebte – und immer noch liebe. Aber nun weiß ich nicht mehr, was in ihm vorgeht. Seit er uns verlassen hat und nach Rom gegangen ist, hat er mir keine einzige Zeile geschrieben. Und aus Rom erreichen uns keine Nachrichten mehr, seit Nero die Gläubigen des Rechten Weges abschlachten ließ. Wenige nur sind übrig geblieben, so wenige. Und doch werden wir ausharren. Der Rechte Weg wird nicht besiegt werden. Die Liebe wird bestehen bleiben.
Ich kann nur hinzufügen: So viele Jahre habe ich gebetet, dass mein Sohn erlöst werde, dass er die Wahrheit des Rechten Weges erkennen möge, so wie Isa es ihn einst lehrte. Doch als Johannes zum Mann heranwuchs, gewann das Blut seines leiblichen Vaters die Oberhand, es wurde stärker, als ich es je für möglich gehalten hätte. Könnte ich ihm nun in die Augen sehen, würde ich den harten, selbstgerechten Schatten des anderen Johannes in ihnen wahrnehmen, und diese Vorstellung macht mir Angst.
Seit er uns endgültig verließ, habe ich jede Nacht gebetet, er möge Isa wieder in seinem Leben spüren. Und er soll nicht den Rest seines Lebens mit dem Glauben verbringen, dass seine Mutter eine Hure war.
Das Evangelium von Arques nach Maria Magdalena
Das Buch der Jünger
Das Vermächtnis des »Buches der Liebe« ist eines der großen Geheimnisse der Christenheit. Dass es ein Evangelium von Jesu eigener Hand gibt, ist bislang kaum einem Christen bekannt. Vielleicht steckt Absicht dahinter. Die Katharer, die vermutlich als Letzte die Originale der nach Frankreich gelangten Schrift der Maria Magdalena besaßen, wurden für den Besitz ebendieser Dokumente verfolgt. Wenn Gelehrte mir vorhalten, dass »es keinen Beweis« für »die Existenz einer solchen Schrift« gebe, oder dass »es keinen Beweis dafür gibt, dass Maria Magdalena überhaupt nach Frankreich kam«, dann kann ich einiges entgegnen. Der wichtigste Einwand aber lautet: Es existiert kein Beweis, weil Hunderttausende von Menschen – eine ganze Kultur – ausradiert worden sind, um sicherzugehen, dass die Beweise vernichtet würden. Die
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