Das Magdalena-Evangelium: Roman
Ladenbesitzer Mahmut war sein Akzent extrem. Seine Kenntnisse von Maureens Sprache waren bestenfalls als rudimentär zu bezeichnen, und so verstand Maureen zunächst nicht, dass er sie mit Vornamen anredete. Er wiederholte sich.
»Mo-ree. Ihr Name. Mo-ree, ja?«
Maureen war verwirrt, und sie versuchte herauszufinden, ob dieser seltsame kleine Mann sie tatsächlich mit Namen ansprach, und falls ja, woher er ihn kannte. Sie war erst weniger als vierundzwanzig Stunden in Jerusalem, und niemand außer dem Empfangschef im King David Hotel kannte sie mit Namen. Aber dieser Mann war ungeduldig und fragte erneut:
»Mo-ree. Sie sind Mo-ree. Schreiber. Sie schreiben, ja? Mo-ree?«
Maureen nickte langsam und antwortete: »Ja. Mein Name ist Maureen. Aber woher … Woher wissen Sie das?«
Der kleine Mann ignorierte die Frage, packte Maureen an der Hand und zog sie über den Kirchenboden. »Kein Zeit, kein Zeit. Komm’ Sie. Wir auf Sie warten, lang. Komm’ Sie, komm’ Sie.«
Für solch einen kleinen Mann – er war kleiner als Maureen,die selbst nicht gerade groß war – bewegte er sich sehr schnell. Seine kurzen Beine ließen ihn förmlich durch die Basilika fliegen, vorbei an den Schlange stehenden Pilgern, die darauf warteten, ins Grab Christi gelassen zu werden. Immer weiter führte er sie, bis sie einen kleinen Altar im hinteren Teil des Gebäudes erreichten, wo er plötzlich stehen blieb. Das Areal wurde von der lebensgroßen Bronzeskulptur einer Frau beherrscht, die flehentlich die Hände zu einem Mann ausstreckte.
»Kapelle von Maria Magdalena. Magdalena. Sie komm’ wegen ihr, ja? Ja?«
Maureen nickte vorsichtig, schaute auf die Skulptur und dann auf die Plakette darunter, wo zu lesen stand:
AN DIESEM ORT ERBLICKTE
MARIA MAGDALENA ALS ERSTE DEN
AUFERSTANDENEN HERRN.
Laut las sie das Zitat, das sich auf einer weiteren Plakette unter der Statue befand:
»Weib, was weinst du? Wen suchst du?«
Maureen blieb nur wenig Zeit, über diese Frage nachzudenken, denn der merkwürdige kleine Mann zerrte schon wieder an ihr und führte sie in seinem unwahrscheinlichen Tempo in eine andere, noch dunklere Ecke der Basilika.
»Komm’ Sie. Komm’ Sie.«
Sie gingen um eine Ecke und blieben vor einem Gemälde stehen, dem großen Porträt einer Frau. Die Zeit, der Weihrauch und die Jahrhunderte im öligen Rauch der Kerzen hatten ihren Tribut von dem Kunstwerk gefordert, sodass Maureen die Augen zusammenkneifen und näher herantreten musste, um das dunkle Bild besser in Augenschein nehmen zu können. Der kleine Mann erzählte in zutiefst ernstem Tonfall:
»Gemälde sehr alt. Griechisch. Verstehn Sie? GRIECHISCH . Sehr wichtig. Sie braucht Sie, um ihre Geschichte zu schreiben.Darum Sie hergekomm’, Mo-ree. Wir lang auf Sie gewartet. SIE gewartet. Auf Sie. Ja?«
Aufmerksam betrachtete Maureen das Gemälde, dieses dunkle, antike Porträt einer Frau in rotem Mantel. Dann drehte sie sich wieder zu dem kleinen Mann um, neugierig, wohin er sie wohl als Nächstes führen würde … aber er war weg, so schnell verschwunden, wie er gekommen war.
»Warten Sie!« Maureens Stimme hallte durch das große Kirchenschiff, doch ihr Ruf blieb ohne Antwort. Erneut wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Gemälde zu.
Als sie sich näher heranbeugte, bemerkte sie, dass die Frau einen Ring an der rechten Hand trug: eine runde Kupferscheibe mit einem Muster, das neun kleine Kreise mit Punkten um eine zentrale Scheibe zeigte.
Maureen hob die rechte Hand, die mit dem neuen Ring, um ihn mit dem auf dem Gemälde zu vergleichen.
Die Ringe waren identisch.
V iel wird in den kommenden Zeiten über Simon, den Menschenfischer, geschrieben und gesagt werden. Wie er von Isa und mir selbst auf Griechisch Petros, ›der Fels‹, genannt wurde, während die anderen ihn in ihrer Sprache Kepha riefen. Und wenn die Geschichte gerecht ist, wird sie erzählen, mit welch unvergleichlicher Kraft und Hingabe er Isa geliebt hat.
Und es ist auch schon viel über meine eigene Beziehung zu Simon-Petrus gesagt worden, oder zumindest hat man mir das erzählt. Da gibt es jene, die uns Gegner, ja sogar Feinde nennen. Sie wollen jedermann glauben machen, dass Petrus mich verachtet habe und wir stets und überall um Isas Gunst gefochten hätten. Und da sind jene, die Petrus einen Frauenhasser nennen; doch dies ist ein Vorwurf, der auf niemanden zutrifft, der Isa gefolgt ist. So sei kund und zu wissen getan, dass kein Mann, der Isa gefolgt ist, je eine Frau
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