Das Meer in deinem Namen
Tante Alissa nicht gehört.
Tante Alissa. Die war der Anlass für Carlys Astronomiestudium gewesen. Sie tat sich schwer damit, Kindern etwas zu erklären, besonders, wenn es um Gefühle ging oder um Trost. Einmal aber hatte sie so etwas wie eine Sternstunde, eine geniale Eingebung. Carly war sieben. Andere Kinder in der Grundschule wurden von ihren Eltern abgeholt oder auf Ausflügen begleitet. Sie fing an, Fragen zu stellen. Ob die Toten noch irgendwo waren und ob es stimmte, dass dieser Ort der Himmel war. Tante Alissa hielt wenig vom Christentum. Sie war Naturwissenschaftlerin durch und durch. Aber sie brauchte eine kindgerechte Antwort, denn Carly ließ nicht locker und weinte sich in den Schlaf.
Tante Alissa in ihrer Not schwatzte dem Direktor des Museums, in dem sie arbeitete, etwas ab. Sie hatte nie zuvor um etwas gebeten. Er war so verblüfft, dass er nicht Nein sagte. An dem Abend legte Tante Alissa Carly beim Gutenachtsagen einen kartoffelgroßen, länglichen Stein in die Hand, mit einer seltsam glatten, glänzenden Oberfläche, auf der an einigen Stellen Blasen, Kringel und Risse wie geheime Zeichen zu sehen waren. Er war sehr schwer; schwerer als gewöhnliche Steine von gleicher Größe, wie Carly sie oft in den Grunewaldsee geworfen hatte, um die Kreise auf der Wasseroberfläche zu wecken.
„Das ist ein Meteorit“, sagte Tante Alissa. „Wir haben im letzten Herbst Sternschnuppen gesehen, weißt du noch?“
Ja, daran konnte sich Carly erinnern. Sterne, die vom Himmel fielen, so etwas vergaß sie nicht.
„Wenn sie auf der Erde ankommen, kühlen sie ab, und das hier bleibt übrig. Das ist Post aus dem Himmel.“
„Von meinen Eltern?“, fragte Carly aufgeregt.
„Post aus dem Himmel“, wiederholte Tante Alissa nachdrücklich.
Carly, die stolz darauf war, dass sie im Gegensatz zu manchen Kindern in ihrer Klasse schon mit ganzen Büchern zurechtkam, drehte den Stein hin und her und betrachtete die seltsamen Muster, die beinahe wie Wörter aussahen.
„Aber ich kann sie nicht lesen!“
„Wenn du groß bist, wirst du es eines Tages können. Gute Nacht!“
Wer hatte schon Eltern, die Post aus dem Himmel schickten. Sternenpost! Carly spürte, wie der Stein in ihrer Hand warm wurde. So schlief sie ein, und durch ihre Träume huschte ein Funkeln.
Von da an sah sie die Sterne anders. Als Ralph ihr eine drehbare, nachtleuchtende Sternkarte schenkte, lernte sie alle Sternbilder auswendig und zweifelte nie daran, dass der Nachthimmel ihr ein Stückchen Zuhause war und sie die Sterne zu ihrem Beruf machen würde.
Als an der Uni erste Zweifel aufkamen, war ihr schon Thore passiert, und das Fach zu wechseln für sie damit ausgeschlossen. Meistens machte es ja Spaß. Und die Zeichen auf den Meteoriten konnte sie nun auch lesen: sie sagten immerhin etwas über Herkunft und Beschaffenheit und Schmelztemperaturen aus. Außerdem ergänzte Thore den fehlenden Zauber bei Weitem. Woher sie den allerdings ohne ihn nehmen sollte, war ihr schleierhaft. Sie hatte noch zwei Tage Vertrag bei ihm, jedoch ihre Stundenzahl war schon abgearbeitet. Es blieb nichts zu tun.
Sie fühlte sich verloren. Missmutig zupfte sie an den Pusteblumen herum, pflückte eine und blies die Samen in den Wind. Die wussten auch nicht, wo sie landen würden.
Hoffentlich wurde Teresa bald aus dem Krankenhaus entlassen. Sie war dort schon öfter gewesen, meist wegen ihrer Bandscheiben oder ihrer Hüfte. Danach half ihr Carly mit dem Wohnungsputz, den Einkäufen und den Balkonpflanzen. Teresa wusste dafür Rat in allen Lebenslagen, durchschaute nadelscharf Carlys Schwächen, entdeckte aber auch ihre Stärken und tröstete nebenbei mit ihren Kochkünsten. Teresa war ursprünglich eine Freundin Tante Alissas gewesen. Mit der hatte sie sich irgendwann gestritten, aber Carly und Teresa waren stets wunderbar miteinander ausgekommen. Teresa hatte das Mütterliche, das Tante Alissa völlig fehlte. Vielleicht hatte sie eine Ahnung, was Carly nun mit ihrem Leben anfangen sollte, ohne Thore und ohne klares Ziel.
Wie auf Kommando klingelte ihr Handy. Aber es war nicht Teresa, sondern Thore. Immer noch machte Carlys Herz diesen albernen, unvernünftigen Hüpfer, wenn sie seine Stimme hörte. Nach all den Jahren!
„Ich weiß, du hast deine Stunden durch“, sagte er, „aber ich habe einen Stapel Bücher ins Büro gelegt, mit Zetteln, du weißt schon, da wäre noch einiges ganz dringend zu kopieren. Könntest du vielleicht ... heute noch ...?“
Er
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