Das Meer in deinem Namen
lähmend auf der Stadt liegen. Carly werkelte lustlos im Haus. Sie war müde von der langen Nacht und bemüht, die Bilder von Thore für immer in ihrer Erinnerung festzuheften, die noch von gestern in ihren Gedanken umhertrieben. Auch der Klang seiner Stimme sollte bei ihr bleiben und die lebendigen Schatten, die sein Gestikulieren in der Abendsonne auf die Wiese malte.
Sie schrieb eine Bewerbung, brachte sie zum Briefkasten, las die Stellenanzeigen in der Zeitung, döste in Abrahams Gesellschaft und machte sich gegen Abend ans Unkrautjäten. Die Pusteblumen ließ sie stehen, aber gegen die Vogelmiere musste etwas getan werden, sie erstickte alles.
Da stieß ihre Hand im wirren Grün auf etwas Kantiges. Ein Brief, an Carly adressiert! Den mussten sie und Herr Wielpütz übersehen haben, als am Vortag seine Post aus den Packtaschen geschleudert worden war. Sie wischte Erde und Pflanzenteile ab. Erfreut erkannte sie die Handschrift. Teresa! Teresa schrieb tolle Briefe, allerdings meist nur wenn sie verreist war. Wahrscheinlich hatte man sie wegen ihrer Hüfte wieder zur Kur geschickt. Sie benutzte nie Papier, sondern stets einen ganzen Stapel Postkarten, die sie eng beschrieb und durchnummerierte, von 1-5 oder sogar von 1-9. Die steckte sie alle zusammen in einen Briefumschlag und scheute auch das Porto nicht.
„Dann siehst du gleich die Bilder von dem Ort, wo ich bin, und kannst dir alles vorstellen“, meinte sie. „Papier ist langweilig.“
Oft waren es Bilder vom Meer, die Carly begierig sammelte. Von Tante Alissas Ängsten hielt Teresa nichts.
Carly steckte das dünne Kuvert in die Tasche. Allzu viele Karten waren diesmal offenbar nicht darin, aber sie wollte den Brief später mit sauberen Händen genießen.
Sie waren so hell und so lang, diese Sommerabende. Carly arbeitete sich verträumt durch den ganzen Garten und als sie fertig war, war es zu ihrer Überraschung schon fast zweiundzwanzig Uhr. Ihr Magen knurrte ärgerlich. Sie wusch sich, fischte einen Joghurt aus dem Kühlschrank, und weil immer noch ein Rest Tageslicht am Horizont spielte, setzte sie sich auf die Treppe, um Teresas Brief zu lesen.
Es waren gar keine Postkarten. Es war nur eine Karte, eine Doppelkarte. – Und die hatte einen schwarzen Rand.
Carly verschluckte sich am Joghurt, stellte den Becher ab, ohne hinzusehen. Er fiel um und tropfte zur Freude der Ameisen unter der Treppe rosafarbenen Erdbeergeschmack über beide Stufen.
„Für alle, die sich erinnern“, stand in schwarzen Lettern auf der Innenseite gedruckt. „Teresa Lessing ist am 19. Juli verstorben. Die Beerdigung fand anonym statt.“
Carly konnte nicht glauben, was sie las. Sie lief ins Haus ohne es zu merken, hielt die Karte unter die Küchenlampe. Die Buchstaben blieben trotzig, was und wo sie waren.
Aber die Handschrift auf dem Umschlag war unzweifelhaft Teresas. Eine brennende Wut stieg in Carly auf, weil das leichter war als Schmerz. Teresa hatte es also vorher gewusst und ihr nichts gesagt! Was zum Teufel fiel ihr ein, ihre eigene Todesanzeige zu adressieren? Und dafür auch noch einen normalen Umschlag ohne Trauerrand zu benutzen, so dass man nicht vorgewarnt war? Und das Ganze dann erst nach der Beerdigung abschicken zu lassen, so dass niemand sie auf diesem Weg hatte begleiten und um sie trauern dürfen?
Aber wie typisch Teresa! Sie hatte nie erlaubt, dass jemand sie im Krankenhausnachthemd oder auch nur unfrisiert zu Gesicht bekam. Sie hatte eben nicht gewollt, dass jemand sie in einer Urne sah.
Doch das Trauern, verflixt, das konnte sie Carly nicht verbieten!
Die Tränen allerdings steckten in Carlys Hals fest und nahmen ihr die Luft. Sie schluckte, doch der harte Klumpen ließ sich nicht bewegen. Hastig wählte sie Tante Alissas Nummer, aber die war nicht da. Ach ja, fiel ihr ein, die war auf Exkursion in Ägypten, auf der Suche nach antiken Tonscherben. Tante Alissa liebte die Wüste, weil sie das Gegenteil von Meer war.
Aber wer konnte ihr dann sagen, was mit Teresa passiert war? Da war doch diese komische Nachbarin gewesen, die bei Teresa manchmal die Blumen goss. Widerwillig, weil sie den Katzengeruch in der Wohnung nicht mochte. Carly suchte im Telefonbuch. Nach dem achten Klingeln antwortete endlich jemand.
„Frau Bigalke …? Hier ist Carlotta Templin. Eine Freundin von Teresa Lessing, wir sind uns mal begegnet ...“
„Mädchen, wissense nich, wie spät det is ...?!“
Carly sah erschrocken nach. Dreiundzwanzig Uhr dreißig. Herrje!
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