Das Meer und das Maedchen
legte das Kinn auf das Dollbord und spähte ins Wasser. Sie konnte Signe sagen hören: „Jetzt hast du mächtigen Ärger, Fräulein.“
„Und nur wegen euch verdammten Krabben“, murmelte Mirja, dem Wasser zugewandt.
Wenn sie heute Morgen bloß im Badezimmer geblieben wäre, mit dem Handtuch über dem Kopf! Warum hatte sie es nicht getan? Wenn sie den ganzen Tag im Badezimmer geblieben wäre, wäre nichts von alledem geschehen. Sie hätte die Krabben nicht gehört, weil sie erst dann herausgekommen wäre, wenn Signe sie gekocht und in das Gumbo gerührt hätte.
Aber sie war nicht im Bad geblieben. Nein. Was hätte sie auch den ganzen Tag im Bad machen sollen? War das Badezimmer etwa der passende Ort, den Tag zu verbringen? War es gemütlich und bequem, sodass man sich stundenlang dort aufhalten wollte? Konnte man sich in einem Badezimmer amüsieren? Gab es irgendetwas Interessantes in einem Badezimmer? Nein. Nein. Und noch mal nein.
Statt im Bad zu bleiben, war Mirja also Signe in die Küche gefolgt. Hatte Signe die Krabben auch gehört? Das glaubte Mirja nicht. Sie glaubte nicht, dass Signe Meerjungfrauenblut in den Adern hatte. Nein, falsch: Sie wusste, dass Signe kein Meerjungfrauenblut hatte. Signe war ja nicht ihre richtige Mutter.
Ihre richtige Mutter war Meggie Marie.
Ganz plötzlich, noch während sie Signe beim Rühren zuschaute, hörte Mirja wieder etwas: Lass uns frei!
Der Satz nahm ihr eine Last von der Seele. Das war die Lösung! Sie musste die Krabben freilassen.
Aber das stellte sie vor eine weitere Frage: Wie sollte sie die große Wanne mit den laut rufenden Krabben unbemerkt an Signe vorbeischaffen, zur Tür hinaus, die Stufen hinunter und den ganzen Weg zum Strand, der mindestens hundert Meter weit entfernt war?
Das schaffte sie bestimmt nicht.
Oder doch? Hm … Moment mal!
Aber natürlich! Die Antwort war ganz einfach: Sie musste bloß fragen!
Genau.
Und so fragte Mirja: „Müssen wir die Krabben unbedingt ins Gumbo geben?“
Signe drehte sich mit dem Löffel in der Hand um. „Was?“
Mirja bemerkte, dass die Krabben aufhörten, mit den Scheren zu klappern und übereinanderzukriechen, als Signe sprach.
„Die Krabben“, wiederholte Mirja. „Müssen wir sie unbedingt ins Gumbo geben?“
„Mirja, das ist Krabben gumbo.“
„Ich weiß … aber nur dieses eine Mal, könnten wir da nicht … Würstchengumbo machen?“ Sie lächelte ihr nettestes, aller-aller-nettestes Lächeln. „Würstchen mag jeder.“
„Erzähl keinen Unsinn“, sagte Signe. „Außerdem isst du Krabbengumbo doch so gerne.“
Das stimmte. Ja, früher einmal … da hatte sie Krabbengumbo geliebt. Sie wollte es nicht in Gegenwart der Krabben zugeben, die jetzt völlig still waren. Hatten sie sich aufgegeben? Hatten sie begriffen, dass sie verloren waren?
Mirja warf einen Blick in die Wanne. Wenn jemals ein Haufen Krabben todtraurig ausgesehen hatte, dann waren es diese Krabben. Mirja konnte es einfach nicht ertragen.
„Außerdem“, unterbrach Signes Stimme ihren Gedankengang, „würden wir Dogies Gefühle verletzen, wenn wir seine Krabben nicht kochen.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Immerhin ist er heute Morgen ganz früh aufgestanden, um sie zu fangen.“
Mirja hatte Dogie ganz vergessen. Das Letzte, was sie wollte, war Dogies Gefühle zu verletzen.
Die Krabben rührten sich ein wenig. Mirja seufzte.
Erst gestern hatte Mr Beauchamp zu ihr gesagt: „Die Sterne machen sich bereit.“ Mirja wusste, dass in dieser Nacht etwas Außergewöhnliches geschehen würde, und sie wusste, dass das Gumbo einen wichtigen Anteil daran hatte.
Das Gumbo. Die Ukulele. Der Kaktus.
Alle Sterne stehen bereit.
In der Nacht des blauen Mondes.
Sie sah zu, wie Signe ein Häufchen grüne Paprikawürfel von einem Schneidebrett in den Topf schob. „Außerdem“, sagte Signe, „haben wir immer Krabbengumbo in der Nacht des blauen Mondes. Das ist unsere Familientradition.“
Mirja stellte die Ellbogen auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Der Dampf aus dem Kochtopf legte sich auf ihre Arme. Sie fühlte sich überall feucht.
Plötzlich, als ob sie noch einmal um Gnade flehen wollten, veranstalteten die Krabben ein wahres Tohuwabohu. Mirja versuchte, sie nicht anzuschauen, aber sie konnte nicht anders. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn.
Sie bemerkte BF erst, als er seine nasse Nase an ihrem Bein rieb. Sie war so kalt, dass ihr unwillkürlich ein Schauer über den
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