Das Meer und das Maedchen
1 Mirja lehnte sich über den Rand des Bootes. In der Dunkelheit der Nacht spähte sie auf die schwarze Wasserfläche.
„Ihr verdammten Krabben!“ Sie spuckte die Worte buchstäblich heraus. Mirja wusste, dass Signe es nicht mochte, wenn sie das Wort „verdammt“ in den Mund nahm, aber es war das einzige, das zu passen schien. Deshalb sagte sie es gleich noch mal, ein bisschen lauter: „Verdammt!“ Sollte das verbotene Wort ruhig bis auf den Grund der Lagune sinken und durch die harten Schalen der Krabben sickern! Sie konnte die Krabben nicht sehen, aber sie wusste, dass sie da unten über den Sandboden krochen.
Noch nie in ihren ganzen zehn Lebensjahren hatte sie Krabben sprechen gehört. Und dann, ausgerechnet heute Morgen, hatten alle zehn sie gerufen. Diese zehn Krabben hatten etwas Furchtbares angerichtet.
Verdammte, verdammte, verdammte Krabben!
Mirja überprüfte das Tau, mit dem das Boot am Steg festgezurrt war. Es war immer noch straff. Sie musste warten, bis der Mond aufging. Dann würde die Flut kommen, das Boot würde steigen, das Tau schlaff werden und sie konnte den Knoten lösen und ihren Plan in die Tat umsetzen. Ihren wunderbaren, vollkommenen Plan.
„Komm schon, Mond!“, drängte sie. Wusste er denn nicht, dass sie es eilig hatte? Sie biss sich auf die Lippe. Alles hatte heute Nacht auf den Mond gewartet, den blauen Mond, den zweiten Vollmond im Monat.
Zuerst Signes Gumbo-Eintopf. Dann Dogies Lied, das nur aus zwei Worten bestand. Und schließlich Mr Beauchamps nachtblühender Kaktus.
Alles hatte von dem blauen Mond abgehangen und alles, wirklich absolut alles, war schiefgegangen. Und bloß wegen … der KRABBEN !
Mirja wollte nie wieder auch nur eine einzige Krabbe zu Gesicht bekommen. Nie, nie, nie wieder!
Und jetzt brauchte sie den Mond, weil er die Flut rufen und sie aus dem Becken ziehen musste, durch den Kanal und in die Brandung, bis sie zur Sandbank gelangte.
Das war ihr Plan. Der erste Teil des Plans.
2 Wie kommt ein zehnjähriges Mädchen auf die Idee, nachts nur in Begleitung ihres Hundes in einem kleinen Boot hinaus aufs Meer zu fahren?
Nun, das lag an ihren Muskeln. Ganz genau!
Mirja hockte im Flitzer , winkelte wie ein Boxer die Arme an und ließ ihre Muskeln spielen. Sie war zwar nicht der Unglaubliche Hulk, aber sie konnte stolz sein auf ihre starken Arme.
Dogie, Mirjas Nachbar, besaß einen Sonnenschirm- und Surfboard-Verleih, der in einem gelben Schulbus eingerichtet war und daher „der Bus“ genannt wurde. Und erst kürzlich hatte Dogie Mirja die Verantwortung für das Wachsen der Surfbretter übertragen. Es war eine Aufgabe, die sie sehr ernst nahm. Sie wachste und polierte die Bretter, bis sie wie Seide glänzten. Dogie nannte Mirja seinen Seidensänger, was – wie sie wusste – irgendein Vogel war. Dogie liebte Vögel. Er malte ständig Bilder von Vögeln. Und obwohl das Wachsen von Surfbrettern rein gar nichts mit Singvögeln zu tun hatte, mochte sie es sehr, wenn er sie Seidensänger nannte.
Er bezahlte nicht viel – eine kalte Dose Dr Pepper plus einen Dollar für ein kurzes Surfbrett und zwei Dollar für ein langes. Aber trotzdem war sie stolz auf ihre Arbeit. Sie bewahrte die Scheine in einer alten roten Geldbörse in ihrem Schrank auf. Die Geldbörse hatte Signe in einem Ramschladen für fünfzig Cent erstanden. Mirja hatte mittlerweile zweiundvierzig Dollar in dieser Börse. Sie hatte keine Ahnung, wofür sie das Geld ausgeben sollte, aber sie mochte die Vorstellung, dass es da lag und sich vermehrte.
Eines Tages war Signe von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte ihr einen Versandhauskatalog mitgebracht. Mirja hatte ihn nur einmal durchgeblättert. Man konnte da Cordjacketts für Herren und solche Dinge bestellen. Mirja hatte festgestellt, dass es in diesem Katalog nichts gab, was sie sich wünschte. Wer wollte schon ein Cordjackett?
„Behalte ihn trotzdem“, sagte Signe zu ihr, „für schlechte Zeiten. Vielleicht versüßt er dir irgendwann einmal einen Regentag.“ Also hatte Mirja den Katalog behalten.
Jedes Mal, wenn Dogie sie für das Wachsen der Surfbretter bezahlte, steckte sie das Geld in die rote Börse. Und dann legte sie die Börse auf das Regal in ihrem Wandschrank. Der Katalog verstaubte in der Ecke.
3 Ein Surfbrett zu wachsen, ist nicht so einfach, wie es sich anhört.
Erster Schritt: das Salzwasser abwaschen. Weil es im Bus kein fließendes Wasser gab, hatte Dogie einen Schlauch von seinem Haus bis zum Bus gelegt.
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