Das Merkbuch
das Schwimmen, die Besuche bei Altfreund Kui, die Reise in die Schweiz.
Aber sie verschwanden mit den Empfängern, die Briefe, der Text verschwand mit dem Leser.
Das Merkbuch, das Mutter im Jahr 1971 verwendet, ist wiederum kein Werbegeschenk, vielmehr ein TeBe-Kalender, wie es im Innern heißt, in ein rotes Material gebunden, das wieder mal Leder sein könnte.
Ausgabe D, liest man im Innern; ein kleiner Aufkleber belehrt, dass Mutter das Büchlein in Kassel bei Link & Henning kaufte. Einen TeBe-Kalender benutzte Vater im Jahr 1952, Ausgabe G, ohne irgendeinen Hinweis auf die Verkaufsstelle. In der Ausgabe G gab es zwölf Seiten Vorlauf, jeder Monat mit jedem Tag und dem katholischen Namenspatron. In der Ausgabe D gibt es den Vorlauf ebenso – aber ohne die Heiligennamen. Mutter trägt an den entsprechenden Stellen die Geburts- und Todestage ihrer Lieben ein, Mutti, Gisela, Anny Weyland, Hans Salzmann, sodass sie einen tabellarischen Überblick erhält. Schön gezeichnete Druckbuchstaben – ebenso die Adressen hinten im Adressen-Kapitel, schwarzer Kugelschreiber. Die eine Adresse trennt von der nächsten mittig ein roter Strich.
Viel Schreibarbeit investierte Mutter also in den Kalender, bevor das neue Jahr begann.
Winterwetter mit Schnee. Telephonat mit Michael
Kaffee bei Völker. Wunderbarer Schneespaziergang
Telephonat mit Frau Vier
Frau Lendvoit
Kaffee bei Frau Mänz
English
Erste Wärmegrade. Telephonat mit Erika
Schlachtfest
Kaffee bei Frau Ulm
Kaffee bei mir
Stauden und Zwiebeln zeigen Triebe
Wieder kälter
Kaffee bei Frau Massow
Fahrt nach Rotenburg
Kaffee bei Frau Völker
Brunfelsia blüht. Englisch. Kältegrade
Schnee
Die Jahreszeit, das Wetter, der Garten, die Rituale der Freundinnen (Kaffeeklatsch, Telefonate) – der Lebenszyklus der Gartenpflanzen, die Natur setzt keine historischen Marken. Kaffeeklatsch und Gartenarbeit könnten in der Ewigkeit stattfinden. Immer noch die traditionelle Frauenrolle, das Haus, der Garten, die persönlichen Beziehungen.
Kälte. Fahrt nach Kassel. Besichtigung von Kuis neuer Kunststoffproduktion. Nieste. Konzert in der Stadthalle. Frühstück mit der Müllerin. Heimfahrt. Kaffee bei mir.
Frühlingsspaziergang mit dem Hund. Märzenbecher. Erste Gartenarbeit, Äste und Laub. Schuh- und Pulloverkauf in Kassel. Herr Klobes im Garten. Kaffee bei Frau Mänz. Michael Magister Artium!
Am 11. April unternimmt Mutter erneut eine Reise, Abfahrt 17.40 Uhr, nach Rom. Am nächsten Tag trifft sie um 15.55 Uhr in der Stazione Termini ein.
Es folgt die Liste der Sehenswürdigkeiten, wie sie die Reisegruppe abhakt. So geht es an den folgenden Tagen weiter, bis zum 15. April, Donnerstag, Mutter besichtigt Castel Gandolfo, wo es zu einer unvergleichlichen Nachricht kommt: Arm gebrochen.
So absolviert Mutter die nächsten Sehenswürdigkeiten mit gebrochenem Arm und fährt unversorgt nach Hause, wo sie ins Krankenhaus kommt, Station III , Zimmer 240, wie sie vermerkt. Später Zimmer 237; der Verband wird entfernt, Mutter macht Krankengymnastik mit Fräulein Jaun, wie sie vermerkt, und wird von Professor Langenhagel beaugenscheinigt. Später von Dr. Wedemann. Sie erhält Fräulein Rode als Zimmergenossin; sie erhält Besuch von Vater und trinkt mit ihm Kaffee in der, wie sie schreibt, Kaffeestube des Krankenhauses. Der Sohn heiratet. Am 14. Mai, Freitag, wird sie entlassen, und Tante empfängt sie, wie Mutter verzeichnet, zum Nachmittagskaffee. Vorgestern wurde sie 63 Jahre alt . . .
Manche der Eintragungen an den Krankenhaustagen sind eng ausgestrichen: Mutter hat erst im Nachhinein, als sie wieder zu Hause war, die Geschehnisse notiert und sich dabei in der Zuordnung der Fakten – zum ersten Mal geschwommen – zu den Tagen vertan.
Das Merkbuch funktioniert, wie gesagt, wie ein Fotoalbum und soll bei Gelegenheit das Erinnern stimulieren, wenn Mutter Briefe schreibt, mit den Freundinnen plaudert, mit dem Sohn telefoniert.
Vater unwohl, notiert Mutter am 22. Mai. Am 24. Mai bleibt er mit Blasen- und Nierenbeschwerden im Bett. In den kommenden Nächten ruft sie zweimal den Arzt zu Hilfe, der Vater eine Spritze gibt. Am nächsten Tag wird ein zweiter Arzt konsultiert, regelmäßig Telefonate mit dem Sohn.
Erster Stuhlgang. Schwach und angestrengt
Erstes Mal im Sessel gesessen. Zigarre geraucht
Wohnzimmerbett. Zigarre geraucht. Dr. Schröder. Harnstoff und Blutzucker normal
Telegramm an Michael. Tante nach Karlsruhe
Mittags 13.45 Uhr Ankunft
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