Das Missverstaendnis
auch an diesem Abend wollte er seinen erschöpften Körper dem Wasser anvertrauen.
Er zog sich langsam aus und ging nur mit der Badehose bekleidet in Richtung Fluß. Der Damm war auf den ersten Metern sorgfältig instand gehalten, weiter unten von leichtem Sand bedeckt; es gab kein Geländer mehr; vereinzelt wuchsen stachelige Sträucher zwischen den Steinen. Dann endete der Bau abrupt. Yves kletterte rutschend zum Strand hinunter; wie ein schmaler Bogen grenzte er ans Wasser; linker Hand war der Golf, rechts das offene Meer, dazwischen, als Verbindung, die Bidassoa, still, fast glanz- und farblos, wie ein kaum belebter Widerschein des blassen Himmels. Dem Strand gegenüber lag Spanien.
Yves setzte sich, zog die Knie an und legte das Kinn auf die geschlossenen Hände. Die Einsamkeit war absolut. Sonderbar … Das laute Rauschen der Wellen störte die herrliche Stille des Abends nicht. Ein Fischerkahn glitt geräuschlos über den Fluß, von einem Ufer zum anderen, von Frankreich nach Spanien; goldenes Licht, feiner, kostbarer als das Mittagslicht, umflutete die Gipfel der Berge, während die Täler sich schon mit Schatten füllten. Yves spürte, daß sein Zorn sich plötzlich legte, und eine unerklärliche Traurigkeit durchströmte ihn.
Schnell brach die Nacht herein; im Abendlicht, in der Einsamkeit zog sich das Meer in seiner urwüchsigen Majestät wieder in die Ferne zurück. Yves fühlte sich sehr klein, verloren in der unermeßlichen Weite der alten Erde. Er dachte an sich selbst, an sein verfehltes Leben. Er war allein, er war arm, er fühlte sich erbärmlich. Von nun an würde es keine Freude mehr für ihn geben. Niemand brauchte ihn. Das Leben war schwer, schwer … Er hatte Lust zu weinen; in einer letzten verzweifelten Anstrengung, seine männliche Würde zu bewahren, versuchte er die Tränen zurückzuhalten, doch sie machten ihm das Herz noch schwerer, sie stiegen in ihm auf und füllten seine Kehle, so daß er glaubte, an ihnen ersticken zu müssen.
Die Dämmerung umhüllte bläulich und rosig das ganze Land, und es wurde unmerklich dunkler. Glocken läuteten. Gegenüber sah man Fontarrabie, dessen Lichter immer heller wurden; Fenster zeichneten sich ab, erleuchtete Straßenbahnen, die Verläufe von Straßen; nur der stämmige viereckige Turm der alten Kirche blieb finster. Die Glocken läuteten langsam, als wären sie ermattet, entmutigt, traurig. Und in den Bergen erglänzten nach und nach die Lichter der Höfe, wie Sterne. Es war Nacht.
Um Yves erwachte ein geheimnisvolles Leben und Treiben, flüsternde Laute waren zu hören, Raunen, das Gewimmel lebendiger Wesen, unsichtbarer Insekten, die den Sand bewohnen und die man erst abends hört. Yves lauschte, zitternd vor einer ihm unerklärlichen Furcht. Und dann löste sich sein allzu großer Kummer plötzlich, und die Tränen brachen sich Bahn. Er legte den Kopf in die Hände und weinte – zum erstenmal seit langer Zeit –, weinte wie ein Kind, weinte über sich selbst.
»Sind Sie es?« fragte eine bekannte Stimme, ein wenig zögernd. »Sie werden sich erkälten, es ist schon spät …«
Yves hob den Kopf, öffnete weit die Augen. Da stand Denise; ihr Kleid war ein weißer Fleck in der Dunkelheit. Mit leiser Stimme fuhr sie fort:
»Ich muß mit Ihnen schimpfen … Sie sind genauso unvernünftig wie meine Tochter … Geht man zu dieser Stunde etwa noch schwimmen?«
»Ist es schon so spät?« stammelte Yves.
Er war automatisch auf die Beine gekommen.
»Schon neun Uhr vorbei.«
»Wirklich? … Ich … das habe ich nicht gewußt … Nein, tatsächlich, ich hatte es vergessen …«
»Mein Gott«, sagte sie, »was haben Sie, mein Freund?«
Sie blickte forschend in sein Gesicht, aber es war zu dunkel. Und doch hatte sie diese tränenerstickte Stimme gehört, hatte das zurückgehaltene Schluchzen wahrgenommen … Instinktiv streckten sich ihre zarten, mütterlichen Hände nach ihm aus, die so gut zu trösten, zu beruhigen vermochten. Er stand aufrecht vor ihr, noch immer zitternd, und senkte den Kopf; er weinte leise, doch ohne sich dafür zu schämen, und es schien ihm, als flössen Gift und Blut einer sehr alten Verletzung aus ihm heraus; mit eigenartiger Lust nahm er den vergessenen Geschmack von Salz und Wasser auf seinen Lippen wahr.
Wieder murmelte sie mit zugeschnürter Kehle:
»Was ist los? Was ist nur mit Ihnen los?«
»Nichts«, sagte er, »nichts.«
Unvermittelt kam ihr der Gedanke, daß sie ihn in irgendeinem einsamen Kummer
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