Das Missverstaendnis
während er sich langsam auf den Weg zum Strand machte.
5
A m nächsten Tag sah er sie wieder, während der Siesta auf dem heißen Sand. Jessaint war nach London gefahren, wie er gesagt hatte. Yves ging zu ihr, strich über den feuchten blonden Kopf der kleinen France, sprach mit der Mutter über ihren Mann und über gemeinsame Freunde, die man so schnell entdecken kann, wenn man sich nur Mühe gibt.
Im Speisesaal, wo er sie später wiedertraf, saßen sie an benachbarten Tischen; in der Hotelhalle sah er sie erneut, als sie dort Zeitung las. Und so fort … Von da an traf er sie jeden Tag und zu jeder Stunde. Das war keineswegs erstaunlich: Hendaye ist sehr klein, und sie blieben beide in der Umgebung des Hotels. Denise wollte sich nicht von ihrer Tochter trennen: Sie war ängstlich und hatte die leicht erregbare Phantasie einer echten Mutter. Yves war benommen von diesem eintönigen und bezaubernden Leben, das sich mit der eigentümlichen Schnelligkeit gewisser glücklicher Träume abspielte … Strahlende Vormittage, lange, träge Tage voller Sonnenschein, kurze Dämmerungen und spanische Nächte, in denen alle Düfte Andalusiens über das Meer trieben … Daß Denise in seiner Nähe war, schien Yves ebenso natürlich wie auf sonderbare Weise lieb und teuer zu sein wie die Anwesenheit des Ozeans; vor dem Hintergrund der wogenden Tamarisken tauchte unversehens der Umriß dieser Frau auf wie eine anmutige Spiegelung, geboren aus Sonne und Schatten; Yves wunderte sich kaum noch darüber. Und der helle Schein, das Meeresrauschen füllten seine Tage und Nächte mit lebendigen Farben und einer wilden Musik, an die er sich bald so sehr gewöhnt hatte, daß er sie nicht mehr wahrnahm. Denise’ Schönheit ließ ihn kalt; wenn sie morgens am Strand im Badeanzug hin und her rannte, temperamentvoll und halbnackt, mit der ruhigen Freimütigkeit sehr junger und sehr schöner Menschen, empfand Yves keinerlei beunruhi gendes Verlangen; er war weder gereizt noch gequält von jener brennenden Neugier, die Männern am Anfang einer Liebschaft oft so sehr zusetzt. Denise war hübsch, sie war vor allem einfach und kräftig, und diese Einfachheit, dieser gesunde Körper bezauberten Yves auf eine fast unbewußte Weise. Er fragte sich nicht, ob sie ehrlich war, ob sie einen Geliebten hatte oder vielleicht sogar mehrere. Er zog sie nicht mit Blicken aus. Wozu? Sie war ohne Geheimnis, und wenn sie sich trennten, gab sie ihm keine Rätsel auf. Wenn sie da war, dachte er nicht an sie. Doch war sie nicht immer da? Wenn er sie am Morgen sah, war er zufrieden: War sie ihm nicht das Symbol, das sichtbare Zeichen dieser glücklichen Ferien? Als Schüler hatte er in Hendaye jeden Abend zwei Frauen in schwarzen Mantillen gesehen, die sie von Kopf bis Fuß einhüllten, zwei Spanierinnen … Sie sprachen die rauhe und kehlige Sprache, die er damals noch nicht verstand. Im Dunkel der Nacht sah er ihre Gestalten nicht, doch wenn der Lichtpinsel des Leuchtturms sie erfaßte, tauchten sie unvermittelt auf, erleuchtet vom grellen Licht des starken Scheinwerfers; dann entfernten sie sich wieder, gemessenen Schrittes, mit schwankenden Röcken.
Yves hatte nie ein Wort mit ihnen gewechselt; später glaubte er, daß es Frauen gewesen waren, die im Hotel arbeiteten; sie waren nicht einmal schön gewesen, und wenn er in sie verliebt gewesen war – auf unbestimmte Weise, wie man mit fünfzehn verliebt ist –, so spürte er das Feuer jenes Gefühls gewiß stärker in der Nähe der Tochter des Strandwächters, seiner ersten Geliebten, oder der kleinen Amerikanerin, die er hinter den Kabinen auf den Mund küßte. Die beiden anderen hatte er vergessen, doch so bald er sich an jenen Sommer seiner Kindheit erinnerte, tauchten sie wieder auf – zwei fremde Frauen, die in einer ihm unverständlichen Sprache miteinander sprachen, mit schwankenden Röcken und den schwarzen Mantillen über den Köpfen … So sagte er sich, daß ihm, wenn er Denise später einmal in Paris wiedersähe, mit verblüffender Deutlichkeit der helle und heiße bogenförmige Strand in den Sinn kommen würde, und dahinter das Ufer der Bidassoa, in der ganzen Pracht eines Sommertags. Wenn man Musik hört, stehen einem ferne Tage plötzlich wieder vor Augen. Eine einfache Melodie, die man liebt, beschwört die Vergangenheit herauf, aber auch die Gesichter von Frauen haben diese Macht, dachte Yves.
6
E ines Tages erschien Denise nicht am Strand. Yves bemerkte es nicht gleich; er badete wie
Weitere Kostenlose Bücher