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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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überlebt.“
    „Was?“ Rike schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie meinen Sie das?“
    „Ihr Mann wurde auf der Landstraße, kurz hinter der Kreuzung nach Mülental, überfahren.“
    „Wie, überfahren?! Ist er da rumgelaufen oder was?! Ich versteh das nicht!“ Rike spie lte die Frau, die es nicht glauben kann, und sie hatte keine Mühe, ihrer Stimme einen zunehmend hysterischen Unterton zu verleihen.
    „Nein, er war nicht zu Fuß unterwegs. Er wurde gleich neben seinem Wagen überfahren“ , erklärte Lange, der nicht lang, sondern ziemlich breit war, in seiner betulichen Art.
    „Ja, wieso denn? Ist sein Wagen liegengeblieben? Wollte er jemandem he lfen? Ich verstehe das nicht! Johann läuft doch nicht einfach im Dunkeln auf der Landstraße rum und lässt sich überfahren!“ Ihre Stimme wurde lauter. Sie rieb sich mit einer Hand immer wieder über den Mund.
    „Bitte beruhigen Sie sich, Frau Wolter. Wir wissen noch nicht genau, wie es passiert ist, aber wir sind ziemlich sicher, dass es kein Unfall war.“ Heinz glotzte ihr jetzt direkt in die Augen.
    „Kein Unfall? Was denn sonst?“ Rike starrte möglichst entgeistert zurück.
    Der Kommissar sah überraschend zu Boden und zöger te einen Moment. „Ähm ... also ... so, wie Ihr Mann zugerichtet war, müssen wir davon ausgehen, dass er mit Absicht wieder und wieder überrollt wurde.“
    Rike ließ ihren Blick zu der Weinflasche auf dem Tisch wandern und schwieg. Ihr Gesicht sausdruck wurde abwesend, als sie an Hannah dachte. Und dann öffnete sie das Tor, das sie seit drei Tagen zugehalten hatte - und all ihre verzweifelte, grenzenlose Traurigkeit brach sich so heftig Bahn, dass sich Rike nach vorn krümmte, das Gesicht mit den Händen bedeckte und keine einzige Tränen mehr zurückhielt. Und während sie ihren Schmerz herausließ, stöhnte und schluchzte sie: „Warum?! Wer tut denn so was?! Warum tut man mir so was an?! Erst meine ganze Familie ... meine Hanna, und jetzt auch noch Johann! Ich kann nicht mehr ... was hab ich denn getan? Wer bestraft mich so? Ich kann nicht mehr ...“
    Sie schluchzte und weinte und jammerte und schrie. Dann fing sie an, sich vor und zurückzuwiegen. Heinz und Lange versuchten sie zu beruhigen, aber selbst wenn Rike g ewollt hätte, sie konnte nicht aufhören zu weinen. Die Welt war schwarz und lichtlos ohne Hannah. Alles, alles würde sie dafür geben, sie noch einmal im Arm halten zu dürfen! Aber Hannah war tot und unter der kalten Erde! Alle war nur noch Qual und Schmerz. Und es gab niemanden mehr, der Rike hätte trösten können: keine Mutter, kein Vater, keinen liebenden Ehemann. Es gab nur Lügen, Betrug und Verbrechen. Und Schmerz und Leid. So fühlte es sich an. So würde es sich anfühlen bis in alle Ewigkeit!
    Der schließlich herbeigerufene Notarzt gab ihr eine Beruhigungsspritze und wollte sie zur Beobachtung mit ins Krankenhaus nehmen, aber Rike weigerte sich. Sie zeigte ihm die Ta bletten, die der Psychiater ihr verschrieben hatte, und versprach hoch und heilig, sie vorerst wieder regelmäßig zu nehmen.
    Die Spritze wirkte schnell, und Rike wurde müde und teilnahmslos. Also verabschiedeten sich die beiden Kommissare und kündigten ihr erneutes Erscheinen für den nächsten Tag an. Schließlich fuhr auch der Notarzt davon, und Rike hatte nur noch das Bedür fnis, sich ins Bett fallen zu lassen. Sie fühlte sich erschöpft und kraftlos, gedankenleer, die Sinne vernebelt, die Seele betäubt. Sie hatte noch kaum die Bettdecke bis ans Kinn gezogen, als sie auch schon eingeschlafen war.
    Am nächsten Morgen erwachte sie spät. Die Erinnerungen an den vorangegangenen Tag k amen schubweise. Es war so viel passiert ... so viel Schreckliches ... und dennoch - sie hatte es geschafft, Rache zu üben und zu überleben.
    Aber lohnte es sich überhaupt weiterzuleben? In einer Welt, in der es keine Hannah mehr gab? Tränen stiegen in ihre Augen. Sie fühlte, wie eine Welle aus gewaltigem Schmerz heranrollte. Sie würde darin ertrinken. Und vielleicht war es besser so.
    Schluchzend drehte sie sich auf die Seite, steckte zwei Finger in den Mund, krümmte sich zusammen, wartete auf den unermesslichen Schmerz, der nicht zu ertragen sein würde, und fragte sich, wie viele Tabletten sie brauchte, um dieser Hölle zu entgehen.
    Aus diesem Meer aus Tränen und Trauer tauchte plötzlich ein anderer Gedanke auf ... sank wieder herab, tauchte wieder auf. Penetrant und nicht zu ignorieren. Verschwand und tauchte wieder auf: du

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