Das mittlere Zimmer
bist noch nicht fertig. Du hast noch etwas zu erled igen.
Die Finger rutschten aus ihrem Mund, die Tränen versiegten. Der unermessliche Schmerz war vorerst abgeschmettert. Weil eins jetzt völlig klar und dringend im Vordergrund stand: Sie durfte diese Welt nicht ve rlassen, ohne sich vorher um das blaue Ding gekümmert zu haben!
Dieser Gedanke trieb sie aus dem Bett. Zehn M inuten später kochte sich Rike in der Küche frischen Kaffee. Es war ein bedrückendes Gefühl, allein am Frühstückstisch zu sitzen. So stand sie nach einer Weile auf und wanderte mit der Kaffeetasse in den Flur.
Ganz klar war ihr Kopf nach der gestrigen Notarztbehandlung nicht. Sie hatte sich bisher über die Ve rnichtung der blauen ,Isis‘ noch keinen einzigen Gedanken gemacht. Und auch jetzt, als sie vor der Tür zum mittleren Zimmer stand, kam ihr nicht die geringste Idee, wie sie gegen das Ding , das die Wurzel allen Übels war, vorgehen sollte, das Ding , das Menschen Zeit stahl, das Familien in den Wahnsinn trieb und das aus Johann ein Ungeheuer ohne Skrupel gemacht hatte! Hatte nicht eigentlich dieses Ding ihre Tochter umgebracht?!
Und trotzdem, ihre Wut hielt sich in Grenzen. D as Ding war irgendwie so abstrakt, so unwirklich, so unfassbar, war so grenzenlos fremd. Auch wenn Johann ihm einen, wie sie fand, unpassenden Namen gegeben hatte, man konnte sich das Ding nicht wirklich vorstellen. Hatte es überhaupt Gedanken, Gefühle, Gründe, so zu handeln, wie es das tat?
Rike nahm einen Schluck Kaffee und trat noch einen Schritt näher an die Tür heran. Sie kon nte jetzt in Ruhe überlegen, von wem sie sich bei der Vernichtung von ,Isis‘ helfen lassen wollte: von offiziellen Behörden, was großes Aufsehen und viele Fragen nach sich ziehen würde, oder von Leuten, die handelten, ohne nachzufragen, vorausgesetzt, man bezahlte sie großzügig genug. Und an Geld würde es ihr wohl kaum mangeln. Es sei denn -
Rike trank noch einen Schluck Kaffee, und ein unangenehmer Druck füllte ihren Magen. Wenn Johann nun gestern Abend, bevor er zu seiner letzten B egegnung mit ihr aufgebrochen war, ein Testament geschrieben hatte? Oder was, wenn Johann in seinen letzten Stunden Aufzeichnungen gemacht hatte, die ihre Mordpläne dokumentierten? Dann saß sie im Gefängnis und hatte gar kein Geld, um ,Isis‘ auszulöschen!
Berühre die Tür, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, und noch bevor ihr Verstand überhaupt eine Entscheidung treffen konnte, hob sie die linke Hand und legte sie auf das weiße, glatte, warme Holz der Tür zum mittleren Zimmer.
Ein leichtes Vibrieren. Das den Arm hinaufläuft. Bis ins Gehirn. Das die Gedanken beruhigt. Alles wird ein gutes Ende nehmen. Johann hat dich nicht enterbt, er hat auch keine belaste nden Aufzeichnungen hinterlassen. Johann war der Meinung, dass er seine Frauen immer überleben würde. So oder so. Er hatte seinen Tod nicht eingeplant.
Rike nahm die Hand herunter. Was war denn das gewesen?! Eine Begegnung der fünften Art?! Eigentlich hätte sie entsetzt sein müssen , aber sie fühlte nichts als eine ruhige Kraft, die ihr Bewusstsein ausfüllte und wärmte und stark machte. Sie hatte nichts zu befürchten. Niemand konnte ihr einen Mord nachweisen.
Gelassen trank sie ihren Kaffee aus, während sie in die Küche zurückkehrte, und begann das Geschirr der letzten zwei Tage abzuwaschen. Als sie anschließend das Wohnzimmer au fräumte, ertappte sie sich mehrfach dabei, wie sie in Gedanken die Möbel umstellte, wie sie fröhliche Bilder an die Wände hängte und die Praxisräume an einen anderen Tierarzt vermietete.
Gegen halb elf klingelte es unten an der Haustür. Rike hatte bereits früh am Morgen ein selbst beschriftetes Schild ,Wegen eines Todesfalls bleibt die Praxis vorläufig geschlossen‘ an die Tür gehängt und bisher jedes Telefonklingeln hartnäckig ignoriert. Es waren denn auch keine unbelehrbaren Patienten an der Tür, sondern die Kommissare Heinz und Lange.
Diesmal bat Rike sie in die Küche, wo sie ihnen eine Tasse Kaffee servierte. Auf Heinz´ Fr age, wie es ihr gehe, antwortete sie, dass sie ihre Tabletten geschluckt habe und sich daher hauptsächlich müde fühle. Sie redete so leise und ausdruckslos, wie es ihr möglich war. Kommissar Heinz zückte ein kleines, schwarzes Buch mit Stift aus der Innentasche seines Sakkos, um sich Notizen zu machen.
Rike kam seinen Fragen zuvor. „Haben Sie schon einen Hinweis auf den Täter?“
„Nun, wir haben den Wagen gefunden,
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