Das mohnrote Meer - Roman
Feuer
löschte: Die rotīs wurden beiseitegelegt, um später zu den Resten vom Vortag gegessen zu werden – abgestandenem alūposta , in Mohnsamenpaste gegarten Kartoffeln. Nun wandten sich ihre Gedanken wieder ihrem Schrein zu: Da die Stunde der mittäglichen pūjā nahte, wurde es Zeit für ein Bad im Fluss. Nachdem sie in Kabutris und ihr eigenes Haar Mohnsamenöl einmassiert hatte, legte sie sich ihren zweiten Sari über die Schulter und ging mit ihrer Tochter über das Feld zum Wasser hinunter.
Die Mohnpflanzen endeten an einem sandigen Ufer, das sanft zum Ganges hin abfiel; von der Sonne aufgeheizt, war der Sand so heiß, dass er an den Sohlen ihrer nackten Füße brannte. Plötzlich fiel die Last mütterlicher Wohlanständigkeit von Ditis gebeugten Schultern ab, und sie rannte hinter ihrer Tochter her, die ein Stück vorausgelaufen war. Unten am Wasser richteten sie mit lauter Stimme ein Bittgebet an den Fluss – »Jay gangā maiyā kī …« , holten tief Luft und sprangen hinein.
Beide lachten, als sie wieder an die Oberfläche kamen: Es war die Jahreszeit, in der das Wasser sich nach dem ersten Schock schon bald als erfrischend kühl erweist. Obwohl die große Sommerhitze erst in einigen Wochen einsetzen würde, war der Strom schon merklich geschrumpft. Diti wandte sich nach Westen, wo Benares lag, und hob ihre Tochter hoch, sodass sie eine Handvoll Wasser als Tribut an die heilige Stadt verspritzen konnte. Zusammen mit der Opfergabe floss ein Blatt aus den Händen des Kindes. Sie sahen zu, wie es flussabwärts trieb, auf die Ghats von Ghazipur zu.
Die Mauern der Opiumfabrik von Ghazipur waren teilweise hinter Mango- und Jackfruchtbäumen verborgen, aber die britische Flagge auf dem Dach überragte knapp die Wipfel, desgleichen der Turm der Kirche, in der die Aufseher der Fabrik beteten. An dem Ghat der Fabrik hatte ein einmastiger
Patela festgemacht, der den Wimpel der britischen Ostindien-Kompanie führte. Er hatte eine Ladung chalān -Opium aus einer der Niederlassungen der Kompanie geholt und wurde gerade von einer langen Reihe von Kulis entladen.
»Ma«, sagte Kabutri und schaute zu ihrer Mutter auf, »wo fährt das Boot hin?«
Diese Frage war es, die Ditis Vision auslöste: Plötzlich stand ihr das Bild eines riesigen Schiffes mit zwei hoch aufragenden Masten vor Augen. An den Masten waren große, blendend weiße Segel angeschlagen. Der Bug des Schiffes verjüngte sich zu einer Galionsfigur mit einem langen Schnabel, wie bei einem Storch oder einem Reiher. Im Hintergrund, nicht weit vom Bug, stand ein Mann, und obwohl sie ihn nicht deutlich sah, hatte sie das Gefühl, dass es sich um einen ganz bestimmten, ihr aber nicht bekannten Menschen handelte.
Diti wusste, dass sie nichts Materielles vor sich sah – wie etwa den vor der Fabrik festgemachten Lastkahn. Sie hatte das Meer noch nie gesehen, war nie über ihren Bezirk hinausgekommen, hatte nie eine andere Sprache als ihr heimatliches Bhojpuri gesprochen, und doch hegte sie nicht den geringsten Zweifel, dass es dieses Schiff tatsächlich irgendwo gab und dass es auf sie zuhielt. Diese Gewissheit machte ihr Angst, denn sie hatte noch nie etwas gesehen, was dieser Erscheinung auch nur entfernt ähnlich gewesen wäre, und konnte sich nicht erklären, was es bedeuten mochte.
Kabutri merkte, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war, denn sie wartete eine Weile und fragte erst dann: »Ma? Was schaust du an? Was siehst du?«
Ditis Gesicht war zu einer Maske der Furcht und der Vorahnung erstarrt, als sie mit zitternder Stimme sagte: »Betī , ich habe ein Schiff gesehen.«
»Meinst du das Boot dort drüben?«
»Nein, betī , es war ein Schiff, wie ich noch nie eins gesehen habe. Es war wie ein großer Vogel, mit Segeln wie Flügel und einem langen Schnabel.«
Kabutri schaute flussabwärts und fragte: »Kannst du zeichnen, was du gesehen hast?«
Diti nickte, und sie wateten ans Ufer. Sie zogen sich rasch um und füllten einen Krug mit Wasser aus dem Ganges. Als sie wieder zu Hause waren, zündete Diti eine Lampe an und führt Kabutri in den Schrein. Der dunkle Raum hatte rußgeschwärzte Wände und roch durchdringend nach Öl und Räucherwerk. Drinnen stand ein kleiner Altar mit Statuetten von Shiva und Ganesh und gerahmten Drucken von Durga und Krishna. Doch der Raum war nicht nur ein Schrein für die Götter, sondern auch Ditis persönliches Pantheon der Verehrung, und er enthielt viele Andenken an ihre Familie und ihre Vorfahren – darunter
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