Das Mondkind (German Edition)
Märkte öffneten, aber das frühe Aufstehen war nicht der Grund für die Erschöpfung, die er jeden Freitagabend verspürte. Ein Tag, den er damit zugebracht hatte, das Geld anderer Menschen zu investieren, konnte ihn so abgekämpft zurücklassen wie ein Tag an der Front, als er noch bei den Marines gewesen war. Mit achtunddreißig war er in seinem sechsten Jahr als unabhängiger Vermögens verwalter, nachdem er im Anschluss an seine militärische Laufbahn drei Jahre lang bei einer großen Investmentbank gearbeitet hatte. Während seines ersten Jahres bei der Bank hatte er geglaubt, mit der Zeit, wenn der Erfolg seine Zuversicht stärkte, würde ihn die Verantwortung, das Anlagevermögen seiner Klienten zu schützen und zu vermehren, weniger drücken. Aber die Last wurde nie leichter. Geld konnte eine Form von Freiheit sein. Wenn er einen Teil der Investitionen einer anderen Person verlor, wäre das gleichbedeutend damit gewesen, einen bestimmten Teil der Freiheit dieses Klienten achtlos fortzuwerfen.
Als er ein Junge war, hatte seine Mutter ihn »mein Beschützer« genannt. Dass es ihm nicht gelungen war, sie zu beschützen, war ein Dorn in seinem Fleisch, der sich selbst nach all diesen Jahren noch fortwährend durch seine Seele vorarbeitete und zu tief saß, um sich rausziehen zu lassen. Er konnte, wenn überhaupt, nur dadurch Buße tun, dass er anderen zuverlässige Dienste erwies.
Am Ende seiner fünften Bahn stellte er sich hin und drehte sich zum fernen Ende des langen schimmernden Rechtecks um, wo er die Stufen ins Wasser hinuntergestiegen war. Der Pool war einen Meter fünfzig tief und Bailey maß einsachtundachtzig, und daher reichte ihm das Wasser nicht ganz bis an die Schultern, als er sich an den Beckenrand zurücklehnte, um sich auszuruhen, ehe er weitere fünf Bahnen schwamm.
Er strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht zurück … und sah unter Wasser eine dunkle Gestalt auf sich zukommen. Er hatte nicht gemerkt, dass nach ihm noch jemand in den Pool gestiegen war. Die gekräuselte Wasseroberfläche wob aus dem bebenden Licht und den Schatten der kleinen Wellen plätschernde Muster, die dafür sorgten, dass die näherkommende Gestalt erheblich verzerrt wurde. Wenn man unter Wasser war, wurde die Fortbewegung durch den größeren Widerstand erschwert. Es war einfacher, Bahnen an der Oberfläche zu schwimmen, doch dieser Schwimmer bohrte sich wie ein Torpedo durch das Wasser. Die Anstrengung, die erforderlich war, um so rasch voranzukommen, hätte den Mann eigentlich zwingen müssen aufzutauchen, um Luft zu holen, ehe er eine Bahn von dreißig Metern Länge bewältigen konnte, doch er schien sich unter Wasser so absolut in seinem Element zu fühlen wie ein Fisch.
Zum ersten Mal seit seinen Zeiten im Marine Corps nahm Bailey eine tödliche und unmittelbar bevorstehende Bedrohung wahr. Er vergeudete keinen Moment darauf, an seinen Instinkten zu zweifeln, sondern drehte sich um und presste die Hände flach auf die Pooleinfassung, stemmte sich hoch und schwang sich aus dem Pool und auf die Knie. Jemand packte von hinten seinen linken Knöchel. Er wäre ins Wasser zurückgezerrt worden, wenn er nicht mit dem rechten Fuß heftig zugetreten und das getroffen hätte, was das Gesicht seines Angreifers zu sein schien.
Sowie er sich befreit hatte, rappelte Bailey sich auf, um auf die Füße zu kommen, wankte auf den Fliesen mit der matten Oberfläche zwei Schritte weit und drehte sich um, plötzlich atemlos und von der irrationalen Furcht überwältigt, er befände sich in Gegenwart von etwas Unmenschlichem, des einen oder anderen mythischen Ungeheuers, das jetzt nicht mehr ein reines Fabeltier war. Nichts stellte sich ihm entgegen.
Die Unterwasserlampen strahlten nicht mehr so hell wie zuvor. Tatsächlich hatten sich die Eigenschaften des Lichts verändert. Es war von einem strahlenden Weiß zu einem düsteren Gelb übergegangen. In diesem schwefligen Schimmer wirkten die blauen Kacheln am Beckenrand grün.
Der dunkle Umriss bewegte sich unter der Oberfläche und kehrte geschmeidig und blitzschnell zu den Stufen zurück. Bailey eilte am Beckenrand entlang und versuchte den Schwimmer genauer zu sehen. Das Wasser im Pool war jetzt säuregelb und wirkte verschmutzt, an einigen Stellen klar, doch an anderen trüb. Es erwies sich als schwierig, Einzelheiten der Person – oder des Dings – im Wasser zu erkennen. Er glaubte Beine, Arme und eine den groben Umrissen nach menschliche Gestalt auszumachen, und
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