Das Multiversum Omnibus
Kleinstädte. Desorientiert und noch immer vom Jetlag gezeichnet erblickte sie mitten im wogenden grünen Gras der Prärie Fermilab mit dem exakt kreisförmigen Ringbeschleuniger. Das Gelände war vermutlich renaturiert worden.
Sie hatte nicht gewusst, was sie sich unter einem High-Tech-Labor wie diesem überhaupt hatte vorstellen sollen. Etwas Futuristi-sches vielleicht, eine Stadt aus Glas und Stahl, wo hartgesichtige Männer in weißen Kitteln sich Notizen auf topmodernen Softscreens machten. Stattdessen schaute sie auf ein Gelände, das wie der Campus einer Universität anmutete. In der parkähnlichen Anlage erhoben sich riesige Gebäude, die wie Bauklötze aussahen, die ein Riesenbaby achtlos weggeworfen hatte.
Diese künstliche Landschaft und die wuchtigen Gebäude bildeten einen krassen Kontrast zur desolaten Öde Afrikas. Aber der Beton war rissig und von Roststreifen und Moder überzogen. Dieser Ort hatte seine besten Zeiten lang hinter sich, sagte sie sich, der verblassende Traum einer expansiveren Zeit.
Da und dort sah sie die Kurven des Tevatrons, eines fast fünf Kilometer durchmessenden Torus, in dem subatomare Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden.
Das Hauptgebäude trug die Bezeichnung Wilson Hall, ein surreales fünfzehnstöckiges Bauwerk aus zwei Türmen, die durch Brü-
cken miteinander verbunden waren. Im Innern war ein riesiges 120
Atrium mit Bäumen und Büschen. Malenfant wartete dort auf sie.
Er hatte dunkle Ringe um die Augen, wirkte aber energisch und freudig erregt. »Was sagst du dazu? Ein ziemlich eindrucksvoller Ort…«
»Das sind die feuchten Träume eines Bürokraten.«
»Man hat die Prärie renaturiert, musst du wissen. Es wurde hier sogar eine Büffelherde angesiedelt.«
»Wir sind aber nicht wegen der Büffel hier, Malenfant. Ich finde, wir sollten zur Sache kommen.«
Er grinste. »Warte, bis du siehst, was wir hier haben, Baby.«
Er führte sie tiefer in den Komplex hinein, in die unübersichtli-chen und mit Gerät angefüllten technischen Bereiche. Sie drückte sich an großen, unidentifizierbaren Ausrüstungsgegenständen vorbei. Überall standen stählerne Gestelle mit nachlässig verpackten elektronischen Geräten herum, und Kabelstränge schlängelten sich über den Boden, die Wände und Decken; an manchen Stellen wurden sie durch kleine Holzleitern überbrückt. Es lag ein Geruch nach Öl, gefrästem Metall, frisch abgesägtem Holz, Reinigungsmit-teln und Isoliermaterial in der Luft, der von einem konstanten metallischen Hämmern überlagert wurde. Es herrschte nicht die kontrollierte, kühle Atmosphäre und Ordnung, die sie erwartet hatte.
Malenfant führte sie zu etwas, das er als Myonen-Labor bezeichnete. Diese Räumlichkeit war ein Stück weit vom Ringbeschleuniger entfernt; anscheinend wurden Strahlen aus Hochgeschwindigkeits-Photonen vom Ring abgelenkt und auf hier befind-liche Ziele geschossen.
Und hier stieß sie auch auf Dan Ystebo. Er trug einen fleckigen weißen Kittel über einem T-Shirt mit einem anstößigen Schriftzug und hatte sich über Softscreens gebeugt, die auf einem Zeichen-tisch ausgebreitet waren. Die Bildschirme waren mit Teilchenzer-falls-Abbildungen und Tabellen bedeckt, die Emma nichts sagten.
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Dans breites Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Hallo, Em-ma. Haben Sie schon gehört…?«
»Einen Schritt nach dem anderen«, sagte Malenfant. »Sag ihr, woran du hier arbeitest, Dan.«
Dan atmete durch. »Wir erzeugen Neutrinos. Wir schießen die Protonen des Tevatrons auf ein Ziel, um Pionen zu gewinnen.«
»Pionen?«
»Ein Pion ist ein Teilchen, eine Verbindung aus einem Quark und seinem Anti-Quark, und es ist instabil. Pionen zerfallen unter anderem in Neutrinos. Damit haben wir eine Neutrino-Quelle.
Aber sie ist vielleicht auch eine Quelle Voraus- Neutrinos – Neutrinos, die aus der Zukunft kommen und in der Gegenwart den Zerfall unsrer Pionen bewirken …«
»Rückwärts gerichtete Wellen«, sagte Emma.
»Exakt – hoffentlich modifiziert durch irgendein Signal.«
»Und wie weist ihr ein Neutrino nach?«
Malenfant grunzte. »Das ist nicht einfach. Neutrinos sind deshalb so wertvoll für uns, weil sie jede Materie durchdringen. Aber wir haben einen brauchbaren Neutrino-Detektor: eine Tonne dichter fotografischer Emulsion; das Zeug, mit dem man auch Filme entwickelt. Wenn geladene Teilchen durch diese Flüssigkeit wandern, hinterlassen sie eine Spur wie den Kondensstreifen eines
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