Das Multiversum Omnibus
Werk ich hier verrichte.
Deprimiert fragte Emma sich, ob man, wenn es keine Armut und Entbehrungen auf der Welt gäbe, sie nicht eigens erfinden müsse, um unausgegorenen Persönlichkeiten wie Younger einen Lebensinhalt zu vermitteln. Vielleicht war das aber auch nur blanker Zynismus; er war immerhin hier.
Ein Mädchen trat aus dem Schatten der Hütte. Sie wirkte nicht älter als zehn, und um ihre spindeldürre Gestalt schlackerte ein schmutzigbraunes Kleid. Sie trug eine Schüssel mit schmutzigem Wasser. Sie schien vor Emma zu erschrecken und zuckte zurück.
Emma rang sich ein Lächeln ab.
Younger winkte dem Mädchen und sprach leise mit ihm. »Das ist Mindi«, sagte er Emma. »Meine kleine Helferin. Sie ist dreizehn Jahre alt, wirkt aber jünger, wie man sieht. Sie hält mich ständig auf Trab.« Er legte dem Mädchen sanft die Hand auf die Schulter, aber sie reagierte nicht. Als er sie losließ, eilte sie mit der Wasserschüssel auf dem Kopf davon.
»Und nun sehen Sie sich den Star der Show an.« Younger winkte ihr, und sie folgte ihm in den Schatten der kleinen Hütte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Augen den Übergang vom grellen Sonnenlicht zur Dunkelheit bewältigt hatten.
Sie hörte den Jungen, ehe sie ihn noch sah: ein leises Atmen, langsame Bewegungen, das Rascheln von Textilien auf Haut.
Er schien bäuchlings auf dem Boden zu liegen. Sein Gesicht wurde von einem trüben gelben Glühen beleuchtet, das von einer im Staub stehenden Taschenlampe herrührte. Er hatte große Augen, die das Licht ohne zu blinzeln einzusaugen schienen.
112
»Er heißt Michael«, sagte Younger.
»Wie alt ist er?«
»Acht oder neun.«
»Und was tut er?« fragte Emma flüsternd.
Younger zuckte die Achseln. »Versucht Photonen zu sehen.
■
Er ist mir aufgefallen, als er noch sehr jung war, fünf oder sechs.
Er drehte Pirouetten im Staub und sah zu, wie Arme und Kleidung nach außen gezogen wurden. Ich hatte vorher schon Kinder mit solchen Angewohnheiten gesehen. Sie konzentrieren sich aufs Bauschen eines Kleidungsstücks oder Lichtreflexe in den Bäumen.
Wahrscheinlich leichte Fälle von Autismus: Sie sind nicht imstande, die Welt zu begreifen und finden Trost in vorhersehbaren Details. Michael hatte auch einen solchen Eindruck gemacht. Aber dann hat er etwas Seltsames gesagt. Er sagte, dass es ihm gefiele, wie die Sterne an ihm zupften.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«
»Ich musste auch erst dahinter kommen. Es wird als das Mach'-
sche Prinzip bezeichnet. Woher will Michael wissen, ob er sich dreht oder ob das ganze Universum sich um ihn dreht?«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen. »Weil er die Zentripetal-kraft spürt?«
»Äh … Man kann beweisen, dass ein rotierendes Universum, ein gewaltiger Materiefluss, der einen umströmt, exakt die gleiche Kraft ausüben würde. Das ist eine fundamentale Erkenntnis der Allgemeinen Relativitätstheorie.«
»Mein Gott. Und er hat das herausgefunden, als er fünf war?«
»Er vermochte es zwar nicht auszudrücken. Aber es stimmt, er hat es herausgefunden. Er scheint intuitiv ein paar der großen 113
Prinzipien im Kopf zu haben, die die Physiker bereits seit Jahrhunderten auszudrücken versuchen …«
»Und nun versucht er, ein Photon zu sehen?«
Younger lächelte. »Er fragte mich, was passieren würde, wenn er mit der Taschenlampe in die Luft leuchtete. Würde der Lichtstrahl sich ausbreiten und immer dünner werden, bis er den Mond erreichte? Aber er hatte die Antwort schon gefunden, beziehungsweise intuitiv erschlossen.«
»Der Lichtstrahl fächert sich in Photonen auf.«
»Ja. Er bezeichnete sie als Lichtstücke, bis ich ihm den physikalischen Fachbegriff nannte. Er scheint einen Sinn für die Diskret-heit von Dingen zu haben. Wenn man imstande wäre, einzelne Photonen zu erkennen, sähe man eine Art unstetes Flackern von konstanter Helligkeit: Photonen, Teilchen aus Licht, treffen nach-einander aufs Auge. Das ist es, was er zu sehen hofft.«
»Und wird er?«
»Unwahrscheinlich.« Younger lächelte. »Dazu müsste er ein paar tausend Kilometer entfernt sein. Und er brauchte einen Verstärker, um die eintreffenden Photonen zu registrieren. Zumindest glaube ich es …« Er schaute sie unbehaglich an. »Es fällt mir manchmal schwer, mit ihm Schritt zu halten. Er hat die Grundlagen der Mathematik und Physik, die ich ihm vermittelt habe, wie ein Schwamm aufgesaugt und Dinge damit angestellt, die ich mir nie hätte träumen lassen. Er
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