Das Mysterium der Zeit
ihrer Anführer geraten die Matrosen in Panik, die Flotte löst sich auf, die Türken fallen ein und richten ein Blutbad an. Die Christen verlieren vierzehn Schiffe, tausend Männer ertrinken, fünftausend werden zu Gefangenen. Die Überlebenden schwören, das Meer sei blutrot gewesen, die Eingeweide der Toten wurden von Fischen gefressen, und Occhialì habe am Ende des Tages aufgezählt, wie viele Italiener er getötet hatte. Die italienischen Schiffsjungen auf den türkischen Schiffen, Überläufer, aber noch zartbesaitet, weinen angesichts des grässlichen Schauspiels, aber Occhialì hat schon lange keine Tränen mehr. Der Räudige lässt die Schiffbrüchigen und Flüchtigen einen nach dem anderen auf dem Strand einfangen, dann errichtet er zum Zeichen seines Sieges aus ihren Knochen und Schädeln einen Haufen, Schädelturm genannt.
Auf dem Meer kennen ihn mittlerweile alle, alle reden über ihn, aber keiner versteht ihn wirklich: Franzosen, Engländer, Spanier, sogar Araber achten ihr ehemaliges Vaterland. Wer in den Dienst der |254| Barbaresken übertritt, schont die Schiffe seiner ehemaligen Landsleute, das ist Tradition. Occhialì aber hat tiefer als alle anderen in das dunkle Geheimnis des italienischen Wesens geblickt. Es ist ein Volk ohne Brüderlichkeit, eine vagabundierende Miliz aus Einzelkämpfern, Heckenschützen, unechten Helden, Verrätern und schmutzigen Kämpfern. Doch vielleicht verstehen sie gerade wegen ihrer Vertrautheit mit den dunklen Seiten des Lebens besser, was Jesus wollte, der sich nicht zufällig mit Zöllnern und Huren umgab. Wenn Occhialì sich vage an die Reden der Priester aus seiner Kindheit erinnert, fällt ihm ein, dass Jesus gesagt hat, man solle sein Haus verlassen, alle Reichtümer und Sicherheiten, sogar die Familie, um ihm nachzufolgen. Und hat er, als man ihm den Besuch seiner Mutter und seiner Geschwister ankündigte, nicht auch gesagt: »Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, derselbige ist mein Bruder, Schwester und Mutter«? Hat er nicht Freiheit durch Wahrheit versprochen? So bastelt der Räudige in schlaflosen Nächten auf dem schwankenden Schiff an seiner verschrobenen, nebulösen Philosophie, indem er alte Schmerzen und neuen Groll zusammennagelt, aber in seiner bäuerlichen Unwissenheit findet er keinen Ausdruck dafür. Ich werde mir meine Freiheit nehmen, denkt er, die Freiheit, die mir das Evangelium versprochen hat, und werde sie Mohammed in die Hand drücken, und wenn keiner mein Bruder ist, werde ich durch meine Rache reich und mächtig werden, und alle werden mir zustimmen, und es macht nichts, wenn Jesus nicht einverstanden ist, denn ich habe wenigstens Allah auf meiner Seite.
Manchmal versucht er, ohne Tränen und Schluchzer weinend, das Unglück zu verstehen, das ihm als Kind widerfuhr, und dann tut er einen Schwur, dessen umgekehrte Logik dem Fürst dieser Welt teuer ist: Nie wieder sollen die meine Brüder sein, die mir als Brüder genommen wurden.
Mit seinem systematischen Brudermord verflucht er Schlacht für Schlacht das Wort des Evangeliums, verkehrt die Freiheit in Chaos, die Zärtlichkeit in Schläge, die Umarmung in Angriff, die Einsamkeit in Isolation und tauscht die Ketten des Galeerensklaven gegen die eines Sklaven des Bösen, eines Söldners des Nichts. Während alle ihn tüchtig, scharfsinnig und genial nennen, werden die Taue, Segel und Wanten seiner Schiffe vom Wind eines unterdrückten Wahnsinns ergriffen.
|255| In Ligurien dringt er ins Landesinnere vor und macht bei seinen Plünderungen der Örtchen im Hinterland reiche Beute an Schätzen und Sklaven. Nach dem Sieg in Djerba präsentiert er sich kühn vor den gedemütigten christlichen Seestreitkräften. Auf dem Gebiet des Herzogs von Savoyen nimmt er vierzig Arkebusier als Geiseln, verlangt ein Lösegeld von tausendzweihundert Scudi und fordert frech ein intimes Beisammensein mit Ihrer Königlichen Hoheit, der Gattin des Herzogs und Tochter des Königs von Frankreich. Man willigt ein, doch statt der Herzogin wird ihm ohne sein Wissen eine Hofdame der Herzogin vorgeführt. Hochzufrieden setzt er seine Raubzüge an den italienischen Küsten fort, auch wenn er schwer wie ein Lastesel mit Beutestücken beladen ist und seine Männer müde werden. Er plündert, brandschatzt und verwüstet die Küsten Genuas oft bis tief ins Landesinnere. Trifft er auf Einwohner, werden sie in Ketten fortgeschleppt, ist der Ort dagegen leer, legt er Feuer und zerstört alles, einschließlich der
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