Das Mysterium der Zeit
zerlumptes Weiblein. Als das Kind geboren wird, kann es einem leidtun: von schlechter Gesundheit, üblem Aussehen mit Krätze auf dem Köpfchen. |250| Aber es hat einen aufgeweckten Verstand, und als es das Einmaleins lernen soll (der Lehrer war ein Handwerker, der abends die Rotznasen des Dorfes um ein Talglicht versammelte und ihnen das Rechnen beibrachte), zeigt es gute Erfolge. Was dann folgt, ist unbekannt, vielleicht wird er Fischer, vielleicht Hirte. Was auch immer er tut, er muss es mit etwa sechzehn Jahren für immer lassen, als Korsaren unter dem Kommando von Ali Ahmed im Golf von Squillace einen Raubzug unternehmen. Sein Vater Birno kommt um, der Junge wird entführt und in die Sklaverei geschickt. Der Korsar Chiafer Rais, ebenfalls aus Kalabrien stammend, kauft ihn und setzt ihn ans Ruder eines seiner Schiffe. Aber Lucas Gesundheit ist zu schwach für das Leben an Bord, es braucht Zeit, bis er dem Ruder an Steuerbord im Bug zugeteilt wird, wo der beste Ruderer angekettet ist, derjenige, der den Rhythmus vorgibt.
Die Wende in Lucas Leben kommt durch einen anderen Italiener, einen neapolitanischen Matrosen, ebenfalls Galeerensklave, der ihn beleidigt und tyrannisiert, sogar schlägt. Um sich zu rächen, bekehrt Luca sich zum Islam. Als Angehöriger der Religion Mohammeds kann er nicht mehr bestraft werden, aber vor allem möchte er einen Turban tragen, um die Krätze zu verbergen, die seinen Schädel verunstaltet. Man nennt ihn Al Fartas, den Grindigen, oder Uluds-Alì, den Räudigen. Diese Spitznamen wird er nicht mehr los, sie werden im Lauf der Zeit in jeder erdenklichen Weise deformiert: Lucali, Locchialì, Uluch-Alì, Oluzali, Ucciali und schließlich Occhialì.
Obwohl er nach wie vor am Ruder sitzt, verwandelt der Räudige sich in einen Bereitwilligen, einen gedungenen, bezahlten Ruderer, und genießt eine gewisse Freiheit. Vor allem aber ruft er den Neapolitaner zu sich, der ihn beleidigt hat, und tötet ihn bei einem Zweikampf, wodurch er endlich sein blutrünstiges Naturell offenbart. Die Gefährten respektieren und fürchten ihn, das hat er nicht erwartet, es gefällt ihm. Vielleicht hat er sich überlegt, dass das Gute, das er nun erfährt – die neue Stellung in der Rudermannschaft – durch das Böse bewirkt wurde, das er einem Landsmann antat. Könnte das gar eine Methode werden?
Jetzt, wo seine Gebete sich an Allah richten, stehen ihm alle Türen offen. Einen großen Schritt nach vorn tut er, als er die junge Bracaduna heiratet, die Tochter von Chiafer Rais, und den Grad eines Bootsmanns auf einem Korsarenschiff erwirbt. Die ersten Einkünfte |251| fließen, und er kann sich in eine Galeere einkaufen. Er ist listig, erlernt rasch die Seefahrerkunst und erhält nach einer Blitzkarriere das Kapitänspatent.
Als Luca zwanzig Jahre alt ist, bereitet der große Korsar Dragut einen Feldzug mit Kaperfahrten und Überfällen vor. Der Kaufmann Chiafer möchte seinen Sohn Ali teilnehmen lassen, damit er Erfahrungen sammelt. Luca-Occhialì ist inzwischen vollkommen gesund, er wird zum Führer des kleinen Ali ernannt. Langsam steigt er in der Hierarchie der osmanischen Flotte auf.
Er nimmt an der Seeschlacht von Preveza teil, wo die Christen wegen des unverständlichen und verdächtigen Zauderns des Genueser Kommandanten Andrea Doria schmachvoll verlieren. Occhialì erkennt, welchen Wert die subtile Kunst des Verrats, im richtigen Moment angewandt, bei den Italienern haben kann. Denn er kennt auch den Grund für das ständige Zögern der Doria, durch das die Christen fast schon gewonnene Schlachten verlieren: Es sind die Genueser Wucherer, die mit ihrem Geld erzwingen, dass dem Osmanischen Reich nie der entscheidende Schlag versetzt wird. An den Osmanen bereichern sich nämlich ihre Verwandten, indem sie dem Sultan Geld für seine Kriege gegen die Christen leihen. Ein Teufelskreis.
Als Occhialì überraschend mit einer kleinen Mannschaft in Genua auftaucht und Oneglia bedroht, erfährt er, dass es eine persönliche Domäne der Doria ist. Prompt lässt er einen Sklaven seines Schiffes frei und schickt ihn mit tausend Entschuldigungen zu den Doria.
Drei Jahre später gehört er zur Mannschaft von Dragut, fällt in Süditalien ein und kapert Schiffe der gefürchteten Cavalieri von Malta. Er begleitet Dragut auf eine Mission nach Konstantinopel und erwirbt de facto die Admiralswürde. Er fängt wichtige Geiseln, die viel Geld einbringen, wie der katalanische Edelmann Jaume Losada oder der spanische
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