Das Mysterium der Zeit
unschuldigen Fischerboote am Strand. Als die Bewohner des kleinen Ortes Taggia Widerstand leisten, überfällt er die Kirche und das Kloster, schleppt Kruzifixe, Stühle und Kandelaber fort, zerlegt eine ganze Orgel und nimmt sie Stück für Stück bis zur letzten Pfeife mit. Seit dem Tag findet er die Ortschaften Liguriens fast immer leer vor, so groß ist die Angst der Einwohner.
Als Occhialì auf die fünfzig zugeht, stirbt Süleyman der Prächtige auf dem Schlachtfeld in Ungarn. Sein Sohn Selim folgt ihm nach, er ist hässlich wie der Räudige, mehr Ungeheuer als Mensch, seine Gliedmaßen sind unproportioniert, das Gesicht zerfressen vom Wein und vom Schnaps, den er im Übermaß zur Verdauung benutzt. Der junge Sultan ist grob, ungeschickt und faul, Essen und Trinken sind seine Lieblingsbeschäftigung, die Regierung überlässt er seinem Großwesir. Selim schätzt Occhialì sehr, er überträgt ihm die Führung des Barbareskenreichs Algier. Aus gutem Grund bezeichnet das Wort »algerisch« lange Zeit Menschen, die besonders grausam gegen die Christen wüten.
Als sein Schiff im Hafen einfährt, geloben die für ihre Aufsässigkeit bekannten Anführer der Janitscharen ihm Gehorsam und schenken ihm ein prächtiges Pferd mit Zaumzeug aus Gold und Türkisen. Occhialì, der Schlächter von Unschuldigen, von einem dekadenten, lasterhaften Diktator zum Regenten ernannt, hält auf seinem Pferd, umgeben von einer Schar Räuber, triumphalen Einzug in |256| der Berberei, während tausendfünfhundert Kanonenschüsse abgegeben werden und die Menge sich prügelt, um ihn zu sehen und zu berühren.
Sein neuer Titel verleitet ihn zu tollkühnen Aktionen. Er lässt vierzehntausend türkische Arkebusiere und sechzigtausend Mauren zusammenziehen und schickt sie mit vierhundert, mit Schießpulver beladenen Kamelen nach Mazagan am Golf von Arzew, um während der Osterwoche die Stadt Oran anzugreifen und eine Landung in Spanien an der Küste Andalusiens vorzubereiten. Vierzig Galeoten kreuzen schon vor Almeria, doch durch einen Zufall wird sein Invasionsplan entdeckt und ein heimlich angelegtes Waffenlager im Binnenland beschlagnahmt.
Kaum erklingt sein Name, versammelt sich eine begeistert Menge aus Gaunern. Occhialì der Räudige ist der Prophet der Banditen, der schmutzige Messias der Schakale, Freischärler und gedungenen Mörder geworden. Er zieht mit seinen Korsaren und fünftausend Janitscharen aus Algier und führt das Heer über Land in Richtung Tunis, das mittlerweile von den Spaniern und dem König Muley Hamida kontrolliert wird. Auf dem Marsch entlang der nordafrikanischen Küste gesellen sich über tausend Berber freiwillig zu seinen Truppen. Muley Hamida flieht in Todesangst, Tunis fällt sofort. Occhialì dringt mit seiner Infanterie durch einen Tunnel in die Stadt ein und verwandelt sie in eine Basis der Korsaren unter der Führung von Cayto Ramadan aus Sardinien, auch er ein abtrünniger Italiener, auch er ein Schlächter seines eigenen Volkes, auch er eine der zerlumpten, blutdürstigen Mänaden, die bei dem Gastmahl der Wahnsinnigen triumphieren, das sich Krieg nennt.
Italiener waren die Toskaner, Apulier und Genueser, die der Räudige auf seinen Raubzügen an der Küste jahrelang gequält hatte. Italiener sind die Venezianer, die er jetzt im griechischen Meer massakriert. Aber es sind ebenfalls Italiener, nämlich Kalabresen, die seinem Ruf einen schweren Schlag versetzen, als sie ihn vor ihrer Küste erblicken. Denn sie berichten ihm, die spanische Flotte des Don Juan von Österreich liege noch in Sizilien, obwohl sie längst in Lepanto ist, wo kurz darauf die größte Seeschlacht aller Zeiten stattfinden wird.
An der Schlacht nimmt er als Kommandant des linken Flügels mit über sechzig Galeeren und achtundzwanzig Galeoten teil. Auf allen |257| Schiffen sitzen seine schmutzigen Piraten zwischen den regulären Truppen. Es gelingt ihm, die Reihen der feindlichen Schiffe zu durchbrechen, und zunächst sucht er den Kampf mit der spanischen Admiralität des Don Juan von Österreich. Doch dann wirft er sich gegen andere Italiener, attackiert das Hauptschiff der Malteserritter unter dem Kommando von Piero Giustinian, seinem persönlichen Feind. Giustinian wird von türkischen Pfeilen getroffen und gefangengenommen. Der Räudige entert das Schiff der Malteserritter, lässt sechsunddreißig Mann auf Deck die Kehle durchschneiden, alle Offiziere sterben. Insgesamt macht er in Lepanto zwölf Galeeren kampfunfähig und
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