Das Nebelhaus
Kinderbücher, Kindermöbel, Kindergärten und kindergerechte Hotels, selbstverständlich auch um die Kinder selbst, um »Dadada« und andere Glanzleistungen. Ich hatte großes Verständnis dafür – schließlich war ich zweiundzwanzig Jahre zuvor selbst junge Mutter gewesen –, trotzdem fühlte ich mich in diesem Club der besorgten Erziehungsberechtigten fehl am Platz.
Als meine Freundinnen ihre Kinder zur Welt gebracht und ihre Tage mit Mutterschaft gefüllt hatten, war mein Kind in eine andere Stadt gezogen, in sein eigenes Leben, in dem mein Gewicht von Jahr zu Jahr abnahm wie das einer Siechenden. Mir war schon der Gedanke gekommen, noch einmal ein Kind zu kriegen und großzuziehen, aber unabhängig davon, dass mir der Mann dazu fehlte, hatte ich über diese lächerlichen Auswüchse einer Midlife-Crisis nur den Kopf geschüttelt. Ich fand mich damit ab, keine beherrschende, steuernde, dirigierende Mutter mehr zu sein, ich war meiner wichtigsten Funktionen entledigt, und so zog ich immer öfter einen Abend mit den Mördern auf meinem Schreibtisch einem nur vermeintlich lustigen Abend mit meinen Freundinnen vor. Wenn ich zum Arbeiten zu müde wurde, schaltete ich den Fernseher ein und ließ mich mit irgendetwas berieseln, das keine geistige Anstrengung erforderte. Die Auswahl war riesengroß, und auf bestimmte Sender war in dieser Hinsicht hundertprozentig Verlass.
Ich war dabei, ein Schild vor mein Leben zu hängen: Bitte nicht stören.
»Ich glaube, ich bin bereits verabredet«, sagte ich und ließ meinen Blick über die Mappen und Papiere gleiten, die Arbeit für Wochen, angewidert davon und zugleich süchtig danach.
»Bitte. Es wird doch irgendwo ein Plätzchen für meine Wiedergutmachung geben«, sagte Yim.
»Sie brauchen nichts wiedergutzumachen.«
»Ich will aber.«
Yims Hartnäckigkeit schmeichelte mir ein paar Sekunden lang, und in dieser Zeitspanne sagte ich: »Na schön, ich … Einfach nur auf einen Plausch, ja? Am Montag also, wieder um neun?« Dass die Verabredung erst in drei Tagen stattfinden würde, beruhigte mich ein wenig. So konnte ich noch eine Weile lang so tun, als wäre der Montag weit weg.
»Einverstanden, um neun. Und bitte essen Sie diesmal vorher nichts.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, ärgerte ich mich über mein Nachgeben. Hauptsächlich, weil ich in der getroffenen Verabredung keinen Sinn sah, aber auch weil ich dadurch weiter in den Fall des Amoklaufes von Hiddensee hineingezogen wurde, obwohl ich mit dem Gedanken spielte, ihn abzugeben. Ich hatte mir bereits einige Ausreden überlegt, die ich dem Redakteur auftischen könnte – Krankheiten waren immer gut, auch ein plötzlicher Todesfall in der Familie kam in Frage. Wie ein Schulmädchen, das sich vor dem Aufsatz drücken will, war ich nach der Szene im Restaurant die Möglichkeiten, mich zu entwinden, in Windeseile durchgegangen und stellte doch immer wieder fest, dass der Fall mich gepackt hielt: Tagträume, Grübeleien, ein Date mit Frau Nans Sohn …
Ich legte mich ins Bett, wo ich allerdings nicht lange allein blieb. Etliche Fragen gesellten sich zu mir. Sie redeten unentwegt auf mich ein, auch als ich schon fast eingeschlafen war. Eine davon war besonders penetrant. Sie scheuchte mich auf. Ich stand auf, ging hinüber zum Schreibtisch und blätterte alle Unterlagen des Falles »Hiddensee« durch, dann ein zweites Mal, aber sie blieben mir eine Antwort schuldig.
Wieso hatte sich Frau Nan zum Zeitpunkt des Amoklaufs um ein Uhr nachts am Tatort aufgehalten, im sogenannten Nebelhaus?
4
September 2010
Das Haus von Philipp und Vev lag in einer Senke zwischen zwei kleinen Hügeln, sodass man von überall den Sand und den Himmel sehen konnte, kaum etwas anderes als das. Der nächste Nachbar, die Familie Nan, war zweihundert Meter entfernt, getrennt durch ein Birkenwäldchen. Dass sich oft am frühen Morgen Nebel in der Senke sammelte und alles für eine Weile einhüllte, war der Grund für den Spitznamen, den die Insulaner dem für Hiddensee untypischen, hauptsächlich gläsernen Neubau gegeben hatten: Nebelhaus. Für mehrere Stunden des Tages blieb es ein Schemen, und erst am späten Vormittag kamen seine Konturen deutlicher zum Vorschein; im Herbst und Winter war es manchmal ganze Tage lang verschwunden, nur um an einem klaren Tag, wenn der Wind den Nebel vertrieben hatte, in seiner beeindruckenden gläsernen Architektur wie ein strahlendes Juwel in der Sonne dazuliegen. Man hörte das Meer von allen Seiten rauschen
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