Shaos Todeswelt
TOTENWELT!
In blutroten und nach unten hin wegtropfenden Buchstaben war der Titel auf den Karton der CD-ROM gedruckt worden. Wie ein Signal, das von einem Käufer auf keinen Fall übersehen werden sollte.
Das traf bei Shao voll zu.
Vielleicht wäre sie an dem Stand vorbeigelaufen, hätte es da nicht den Verkäufer der Buchhandlung gegeben, der die Masse der Bücher auf seinem Arm nicht mehr halten konnte. Er hätte einen Wagen nehmen sollen, um sie zu transportieren, stattdessen wollte er sich beweisen, balancierte den Stapel, der zu hoch war und kippte. Langsam, als wollte er den Träger ärgern und den Kunden ein Schauspiel bieten.
Keiner half. Auch Shao nicht, denn sie befand sich zu weit entfernt. Zwischen ihr und dem jungen Mann stand ein Podest mit CD-ROMs. Die Bücher rutschten hinein, räumten auf. Im Hintergrund klatschte jemand Beifall, und der junge Mann stand totenbleich auf der Stelle. Er schaute zu, welchen Schaden Bücher anrichten konnten. Er wäre am liebsten im Fußboden versunken.
Hin Videospiel rutschte direkt vor Shaos Füße.
TOTENWELT!
Sie konnte es nicht übersehen.
Die Schrift zeigte nach oben. Das Spiel lag da, als hätte sie es sich persönlich ausgesucht. Für die Dauer einiger Sekunden spürte Shao den Schauer. Eine Hitzewelle strömte von den Zehen hoch bis zum Kopf. Shao kam sich schon vor wie eine Frau in den Wechseljahren.
Tief atmete sie ein und stieß die Luft ebenso intensiv wieder aus. Dabei hatte sie die normale Welt um sich herum vergessen. Ihr Blick blieb wie gebannt am Titel der CD-ROM hängen. Sie schüttelte leicht den Kopf. Etwas störte sie. Zugleich strömten einige Dinge auf sie ein, denen sie nicht entgehen konnte.
Gab es da eine Verbindung? Eine Assoziation? Weshalb faszinierte sie dieser Titel so sehr, dass sie alles um sich herum einfach vergaß und sich nur darauf konzentrierte?
»Darf ich, Madam?«
Die zittrige Stimme des Mannes riss sie aus ihren schon tranceartigen Gedanken. Sie schaute hoch und dabei direkt in das Gesicht des jungen Verkäufers, der dabei war, die Dekoration wieder aufzubauen. Sein Gesicht war hochrot angelaufen. Die dünne Leinenjacke umschlotterte seinen mageren Körper, und seine beiden Hosenbeine sahen aus wie zwei leicht gebogene Röhren.
»Nein«, sagte Shao.
Der Verkäufer war vollends irritiert. »Wie meinten Sie, Miss?«
»Sie brauchen sich darum nicht zu kümmern.« Shao hatte sich schon gebückt und hob den Karton auf. »O danke, dann…«
Shao ging zurück und brachte ihre Beute aus der Reichweite des Verkäufers. »Es ist auch nicht mehr nötig, es an seinen Platz zu stellen, junger Mann. Ich werde es kaufen.«
»Ach.«
»Ja, kaufen.«
Er lächelte.
»Gut, ja, wirklich. Kaufen Sie es. Es ist sowieso das letzte Spiel. Da haben Sie Glück gehabt. Es wird auch nicht mehr hergestellt und kann nicht nachbestellt werden.«
»Warum denn nicht?«
»So recht weiß ich das auch nicht. Die Firma hat von einer limitierten Auflage gesprochen. Eine Markteinführung oder so ähnlich. Aber das ist nicht mein Bier.«
Shao nickte. »Da haben Sie recht, und ich habe Glück gehabt.«
»Wenn Sie sich dafür interessieren.«
Shao hatte die Antwort nicht gefallen. Sie runzelte die Stirn und fragte: »Warum haben Sie das so ungewöhnlich betont?«
»Nun ja, ich weiß auch nicht. Aber das Ding ist nicht eben gewaltfrei, wenn Sie verstehen.«
Die Chinesin mit den schulterlangen, dunklen Haaren schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe nicht.«
»Ich kann Ihnen auch nur sagen, was ich gehört habe, denn selbst habe ich das Spiel noch nicht durchlaufen lassen. Das ist ziemlich echt gemacht, und da geht es rund. Wie der Titel schon sagt, wird der Spieler in eine Totenwelt hineingeraten und mit Gefahren konfrontiert, die in Mord und Totschlag enden. Das wollte ich Ihnen nur gesagt haben, Miss.«
»Danke sehr für die Beratung. Ich werde mir ihre Worte zu Herzen nehmen und das Spiel mit meinem Partner mal durchchecken.«
»Gute Idee.«
»Mr. Summerton, was ist denn hier los?«
Der Verkäufer drehte sich um. Er schaute erschreckt in das strenge Gesicht einer Vorgesetzten, deren ausgestreckte Finger auf die Unordnung deuteten.
»Ein kleines Malheur, Mrs. Tenderly.«
»Sorgen Sie für Ordnung, aber schnell. Danach melden Sie sich bitte bei mir.«
Sie wollte gehen, aber Shao griff ein. Sie hatte am hochroten Kopf des jungen Mannes gesehen, was ihn erwartete, wenn diese Mrs. Tenderly Tacheles mit ihm redete. Ihr tat der Verkäufer
Weitere Kostenlose Bücher