Das Nebelhaus
ein wenig mit Clarissa zu fremdeln.
Vev stand – was bei einem solchen Wiedersehen normal war – ein bisschen außen vor und wurde von den Gästen nur mit der nötigsten Aufmerksamkeit bedacht. Alles konzentrierte sich auf Philipp, Clarissa und das Haus.
»Möchte noch jemand Kuchen?«, fragte sie.
Alle verneinten.
»Was ist mit dir, Timo? Du siehst aus, als könntest du noch ein bisschen was zwischen die Rippen vertragen.«
»Nein, vielen Dank«, sagte er. »Der Käsekuchen war gut, aber ein Stück reicht mir.«
»Hast du keine Laster?«
Er lächelte. »Doch. Ich trinke Rotwein bis zum Umfallen, und ich schreibe.« Über andere Laster zu sprechen hielt er für unangebracht, vor allem deswegen, weil es keine anderen gab.
Seine Antwort gefiel Vev trotzdem. »Gut, dann also Rotwein.«
»Es ist siebzehn Uhr«, wandte Philipp sofort ein.
»Bist du eine Kirchturmuhr oder ein Radiowecker?« Vev ging zu einer Anrichte im Wohnzimmer, brachte Timo Rotwein, sich selbst ein Glas Whisky und den anderen ein Glas Sekt zum Anstoßen auf das Wiedersehen.
Von da an betrachtete Vev Timo genauer und er sie auch. Dabei vermieden sie es allerdings, dass ihre Blicke sich begegneten. Wenn sie ihn ansah, wandte er sich stärker den anderen zu, und wenn er sie ansah, betätigte sie sich als gute Gastgeberin und räumte irgendetwas auf dem Tisch hin und her.
Timo schätzte Vev als jemanden ein, der selten lachte, obwohl sie keineswegs verkniffen aussah. Ihr Humor war anderer Art, stiller, von Ironie geprägt. Sie lachte nie über ihre eigenen Bonmots. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, abgeklärt, und er stellte sich vor, dass sie, wenn man sie überraschte, es sich nicht anmerken lassen würde. Sie hatte schöne Augen, sehr wach, sehr intelligent, so als könnte sie damit Dinge sehen, die für andere nicht sichtbar waren. Er schätzte, dass sie zehn Jahre älter war als er. Vev war schlank und groß, schwarzhaarig und hatte schwarze Augen.
Als er ihren Blick schließlich doch einmal auffing – es war inzwischen eine knappe Stunde vergangen –, lächelte er sie an, zunächst aus Höflichkeit, dann aus Verlegenheit. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
Die beiden einzigen längeren Unterbrechungen dieses Spiels fanden statt, als zunächst die Katzen ihr Stelldichein gaben und später Clarissa herbeikam. Die Katzen hießen Morrison, Piaf und Nena; Morrison war cool und stattlich, Piaf mauzte in einer Tour, und Nena wirkte irgendwie ein bisschen daneben. Leonie wollte Morrison streicheln, aber der ließ sich lieber von Yasmin liebkosen, und auch Piaf und Nena machten einen Bogen um die selbsternannte Katzenversteherin.
Clarissa hatte drei Bilder gemalt, die jeweils Yasmin, Leonie und Timo darstellten. Es waren bunte Krakeleien, wie sie für Kinder in diesem Alter üblich sind und die fast jeder Beschenkte anrührend findet, auch wenn sie keiner an der Wand hängen haben möchte, Eltern und Großeltern ausgenommen. Vev war minutenlang nur noch für ihre Tochter da, tauschte Küsse, verfolgte jeden ihrer Schritte, ging mit ihr reihum und verteilte die Bilder, sprach Lob aus.
Auch Leonie beschäftigte sich, nachdem sie die Zeichnung geschenkt bekommen hatte, ausgiebig mit dem Mädchen. Sie hatte Clarissa vorher kaum eines Blickes gewürdigt, aber nun begeisterte sie sich für ihre Locken, die grünen Augen, die hübsche Stimme, das süße Kleidchen … Dermaßen mit Aufmerksamkeit bedacht, versprach Clarissa, für Leonie weitere Kunstwerke zu fabrizieren, und es schien, als wäre wenigstens eine neue Freundschaft an diesem Tag geboren.
»Du kannst wirklich gut mit Kindern umgehen, Leonie«, lobte Vev. »Hast du auch welche?«
»Ich bin Kindergärtnerin. Mein Freund will keine Kinder.«
Leonie griff urplötzlich in ihre riesige Handtasche und wühlte eine Weile darin herum, sodass es schepperte und klapperte. Ihre Hände zitterten. Schließlich zog sie eine Pille hervor.
»Ich muss nach jeder Mahlzeit ein Malariamittel nehmen, weil ich nächstes Jahr nach Afrika fliegen will.«
Timo dachte nicht lange darüber nach, trotzdem fiel ihm auf, dass sich Leonie ein bisschen seltsam verhielt. Wieso war sie nicht näher auf ihren Job als Kindergärtnerin eingegangen? Wieso wühlte sie stattdessen hektisch in ihrer Tasche herum, als wäre sie ein Junkie, dessen Schuss überfällig war? Aber vielleicht hatte ihr Verhalten auch gar nichts zu bedeuten.
»Leonie ist also Kindergärtnerin«, sagte Vev. »Und du, Yasmin?«
»Ich
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