Das Nebelhaus
bin nichts Richtiges. Mache dies und das. Vormittags bin ich in einem Laden, Esoterik. Nachmittags bin ich dann mit Freunden zusammen. Male und spiele die Rassel.«
»Die Rassel, soso.«
»Hier ist die Kette, von der ich gesprochen habe. Das ist ein keltisches Fruchtbarkeitssymbol. Für noch zwei weitere Clarissas.«
Sie lachten alle, außer Leonie.
»Und du, Timo?«, fragte Philipp.
»Timo ist Autor«, beeilte sich Leonie zu sagen. »Er hat schon drei Bücher geschrieben.«
»Zwei«, korrigierte Timo.
»Zwei«, stellte Leonie richtig. »Er arbeitet gerade an seinem dritten Roman, wieder halb Thriller und halb Familiendrama. Erzähl doch mal, Timo, woher du deine Ideen hast. Das hat er uns, also Yasmin und mir, nämlich auf der Fähre erzählt.«
Leonie brachte ihn ein bisschen in Verlegenheit, denn er hielt ungerne Vorträge, vor allem nicht denselben zweimal am selben Tag. Andererseits sprach er gerne über seine Bücher. Was wäre er für ein Autor, wenn er es nicht getan hätte? Sollte er seine Texte verschweigen? Verleugnen? Er erzählte von ihnen, so wie andere über ihre Kinder oder ihren Chef reden.
»Ihr kennt das bestimmt: Manchmal steht ein Fenster in einiger Entfernung in genau der Position zwischen dir und der Sonne, sodass kurz ein strahlendes Licht erscheint. Ähnlich verhält es sich mit Ideen. Ideen sind Zufälle, die durch unsere Bewegung und die Bewegung von etwas Überirdischem herbeigeführt werden. Je beweglicher man im Kopf ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, auf eine gute Idee zu treffen.«
Vev nippte an ihrem Whisky. »Erzähl uns mehr.«
»Neulich erst im Flugzeug. Es gab Reflexionen von Fensterscheiben auf der Erde, und ich habe mir überlegt, dass hinter jeder Scheibe ein Schicksal steht: Frauen am Bett ihrer pflegebedürftigen Männer, Umzugswagen, die das Ende einer Beziehung besiegeln oder einen alten Menschen ins Heim bringen, Jugendliche, die sich einen runterholen … Unser Treffen zum Beispiel. Das wäre eine hübsche Idee, unser Treffen.«
»Um sich einen runterzuholen?«, fragte Vev trocken.
Alle lachten, außer Leonie.
»Nein«, stellte Timo richtig, »um eine Geschichte daraus zu machen.«
»Die Unterhaltung wird mir ein bisschen zu derb«, mahnte Leonie, ohne jemand Speziellen anzusehen. »Im Übrigen glaube ich nicht, dass unser Treffen einen guten Roman abgeben würde. Hier passiert ja nichts Besonderes, wir quatschen nur und essen Kuchen.«
»Du hast recht«, sagte Timo. »Es müsste natürlich zu Komplikationen kommen. Die Handlung, anfangs noch unbeschwert, steuert auf etwas Dramatisches zu, von dem man noch nicht weiß, wie es aussieht. Überraschende Wendungen, eine Gefahr, über die man nur spekulieren kann … Ihr kennt sicher dieses Gefühl, wenn man glaubt, etwas Bedrohliches liege in der Luft …«
»Klaro, das nennt man Depression«, sagte Yasmin.
Alle lachten, sogar Leonie.
Dann fragte Philipp: »Gut und schön, aber … kann man davon leben?«
Schlagartig wurde es still. Timos Adamsapfel kullerte auf und ab, seine Finger rangen miteinander.
»Ja – nein – nicht so richtig. Ich habe ein paar Hilfsjobs …«
»Du bist bald Mitte dreißig, Timo. Hilfsjobs sind was für Teens und Twens, für die Leute, wie wir es damals waren. Alles hat seine Zeit. Nichts gegen die holde Kunst, aber solange sie dir nichts einbringt … Na ja, das musst du selbst wissen.«
Timo war nicht in der Lage, darauf einzugehen. Vev rettete am Ende die Situation.
»Es wird mir zu windig. Gehen wir rein? Ich zeige euch, wo ihr schlaft.«
Leonie, Yasmin und Timo brachten ihre Koffer und Taschen in den ersten Stock. Vev führte Timo in das Zimmer, das in den nächsten Tagen seines sein würde.
Ihr Blick drang in ihn ein, und in diesem Moment begriff er, dass sich etwas zwischen ihnen abspielen würde. Allein die Vorstellung, die Chance, erregte ihn mehr als alles andere in den letzten Jahren.
»Papa, ganz viele Möwen.« Clarissa tapste von der Veranda herein und gestikulierte ungeschickt mit den Händen.
Mit ausgebreiteten Armen empfing Philipp seine Tochter. Vev zeigte den Gästen im Obergeschoss noch ihre Zimmer.
»Die kennst du doch alle schon, mein Schatz.«
»Sie haben Hunger«, sagte Clarissa.
»Das haben sie gesagt?«
Clarissa nickte. In ihrem Anorak sah sie süß aus. Die Tochter war Wind, klare Luft. Er atmete sie tief ein.
»Und du?«, fragte Philipp. »Hast du keinen Hunger? Soll ich dir ein Bananenbrot machen?«
In Clarissas Augen glomm
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