Das Netz der Schattenspiele
Selbst heute bei der Mathearbeit hatte sein Blick ihr wie ein Blutegel im Nacken gesessen. Was er sich davon versprach, war Stella schleierhaft.
Sie war mit ihren ein Meter zweiundsiebzig nicht nur deutlich größer als er, auch sonst hatte sie nur wenig von dem, was ein Mädchen für einen Jungen attraktiv machte – das jedenfalls war Stellas Selbsteinschätzung, die sie jeden Morgen vor dem Spiegel auffrischte. Ihr weit über die Schultern reichendes Haar besaß zwar die Farbe sommerreifer Gerste, fiel aber so dünn und glatt herunter wie Spinnenfäden. Sie war, trotz verzweifelter Fressattacken, ekelhaft gleichförmig gebaut. Weder an den Hüften noch der Oberweite ließ sich in nennenswerter Weise ihre Weiblichkeit ablesen.
Und dann das Gesicht! Stella führte einen verzweifelten Kampf gegen Pickel und Mitesser. Manchmal gelang es ihr zwar, den gegnerischen General Akne in ein Rückzugsgefecht zu verwickeln, aber immer wenn es den Anschein hatte, der Gegner sei durch massiven Einsatz chemischer Kampfstoffe endlich in die Knie gezwungen, zeigte der Spiegel neue Kriegsschauplätze. Es gab Tage, da glich ihr Gesicht einer kraterübersäten Mondlandschaft, und Stella empfand es als persönliche Niederlage, dass der elektronische Torwächter SESAM sie gerade in diesen trüben Zeiten mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit erkannte.
Was also, bitte schön, brachte diesen Tim Schröder dazu, sich mit solcher Beharrlichkeit um ihre Aufmerksamkeit zu bemühen? Stellas allgegenwärtiges Misstrauen vermutete hinter diesem Verhalten irgendeine niederträchtige Verschwörung. Vielleicht eine Wette der Jungen untereinander. Zum Beispiel, wenn es Tim gelänge, ihr Vertrauen zu gewinnen, würde er in den harten Kern der Rosaroten Panther aufgenommen, oder wie sich auch immer dieser verschworene Kreis von Jungen nannte, die ständig auf dem Schulhof die Köpfe zusammensteckten.
Vor einem halben Jahr waren Tims Sondierungsbemühungen in eine neue Phase eingetreten. Damals hatte er einen Computer geschenkt bekommen. Seitdem schickte er ihr unentwegt E-Mails. Aber es waren nicht etwa Liebesbriefe, die Stella von ihm bekam. Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen. Tims Vorgehensweise war wesentlich subtiler.
Da! Die neueste Mail schien dafür der beste Beweis zu sein.
Schnuppe!
Bin in einer Notlage.:-(
Du weißt doch, dass der Schmeichel mir da
dieses Referat über die Philosophie Chinas
aufgebrummt hat. Morgen ist Ultimo. Wenn ich
Schmeichel nicht beeindrucken kann, sieht’s
mit meiner Versetzung schlecht aus.
Du bist doch ein Ass in Geschichte. Kannst
du mir nicht weiterhelfen?
*Bitte*, lass mich nicht hängen. :-(
Gruß, Tim
Stella schnaubte verächtlich. Jetzt täuschte dieser Gauner sogar einen Notfall vor! Wenn er sich schon bei ihr einschleimen musste, dann sollte er sie wenigstens nicht »Schnuppe« nennen. So originell war dieser Spitzname nun auch wieder nicht – der Name Stella kam vom lateinischen Wort für Stern, von da bis zur Stern- schnuppe war es nicht weit –, zumal er für Stella einen unangenehmen Beigeschmack hatte. Wenn sie alle so nannten, dann war sie doch wohl auch allen »schnuppe«. Offenbar selbst den eigenen Eltern! Ihre Mutter hielt sich jetzt schon monatelang in Connecticut auf und ihr Vater arbeitete, als müsste er tot umfallen, sobald er nur eine Pause einlegte.
Stella zog die Tastatur näher zu sich heran und tippte.
Tim,
mir kommen die Tränen. ;-(
Du bist doch selbst dran schuld, wenn du bis heute nichts für dein Referat getan hast. Im Übrigen sind mir Fantasystorys und Artussagen immer noch lieber als chinesische Philosophie. Sieh doch mal im Web unter der Adresse http://www.schulhilfen.com nach. Da findest du Referate bis zum Abwinken. ;-) Also, ich hoffe, es bereitet dir nicht zu viel Mühe, dein Referat von dieser Web Site herunterzuladen.:-| Wünsche, gut gelitten zu haben.:-]
Stella
Stella klickte mit der Maus auf den »Senden«-Button am Bildschirm. Der PC ging für wenige Sekunden online: Er stellte eine Verbindung zum Internet her und schickte die E-Mail durch den Cyberspace. Wenige Augenblicke später würde sie Tim auf seinem Bildschirm lesen können.
Zuletzt hatte er ihr doch Leid getan. Vielleicht steckte er ja wirklich in der Klemme. Wenn Stella auch nicht vorhatte seine Faulheit zu unterstützen, wollte sie ihm wenigstens einen Tipp geben, wie er seinen Kopf noch aus der Schlinge ziehen konnte: Mit dem Geschichtslehrer Schmeichel war
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