Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
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Leise schnurrend zog das zweimotorige Flugzeug der ›Brasil-Correio-aéreo‹ über den undurchdringlichen Urwald. Die neun Fluggäste, der Pilot und der Funker hatten kaum einen Blick für die grandiose Natur unter sich. Jede Woche einmal flog man diese Strecke: von der Urwaldstadt Leticia am Rio Javari bis zur Urwaldstadt Porto Velho am Rio Madeira. Eine stinklangweilige Linie, immer nur das wogende Grün des Regenwaldes unter sich, ab und zu durchschnitten von in der Sonne silbern glänzenden Flüssen. So weit das Auge reicht, nur diese dampfende, ungeheuer fruchtbare, gegen alles feindliche, bisher von keines Menschen Fuß betretene grüne Hölle.
Was da unten lebte, wie es unter dem geschlossenen Blätterdach aussah, wußte niemand. Vom Flugzeug aus hatte man dieses Land fotografiert und vermessen und den sichtbaren Flüssen Namen gegeben: Rio Juruá und Rio Purus, Rio Xiruá und Rio Tapauá, Worte nur, Landkartenbezeichnungen. Was rechts und links von ihnen lag, war unbekannt.
Gloria Margarete Pfeil saß an einem der runden Fenster und blickte über den unendlichen Urwald. Für sie war dieser Flug immer wieder ein Höhepunkt in ihrem jungen Leben. Viermal im Jahr überquerte sie das unbekannte Land, um bei ihrem Vater zu sein.
Gloria war 17 Jahre und besuchte in Leticia das Internat der Klosterschule der ›Schwestern von den Tränen Mariä‹. Ihr Vater, Dr. Eberhard Pfeil, war Arzt und leitender Chirurg an dem kleinen Krankenhaus von Porto Velho. Er lebte seit zwanzig Jahren in Brasilien. Er war hier einfach hängengeblieben, als er während eines Medizinerkongresses in Rio de Janeiro einen Urwaldtrip machte. Ausgerechnet in Porto Velho stieß er auf ein Krankenhaus, das von kranken Indios belagert wurde und in dem ein einziger Arzt, ein Mestize, verzweifelt gegen diese Flut von Kranken kämpfte.
Dr. Pfeil war geblieben, hatte die Ärmel hochgekrempelt und aus Porto Velho ein Musterkrankenhaus gemacht. Er heiratete eine Brasilianerin, Gloria wurde geboren, doch die Mutter starb bei der Geburt. Man war damals noch im Aufbau des Krankenhauses, Sauberkeit hatte sich noch nicht als oberstes Gebot durchgesetzt, und so bekam Carmen Pfeil eine Infektion und starb unter schrecklichen Qualen.
Von da an bestand Dr. Pfeils Welt nur noch aus Gloria und seinem Krankenhaus. Er bereitete seine Tochter systematisch auf das Leben im Urwald vor. Sie lernte schießen und reiten, Richtungen aus dem Stand der Sonne bestimmen und konnte ein Tier aus dem Fell schlagen, bevor sie schreiben und lesen konnte.
Mit fünfzehn Jahren schickte er Gloria zu den ›Schwestern von den Tränen Mariä‹ ins Internat, der besten Schule im Umkreis von 2.000 Kilometern. Seitdem flog Gloria jedes Jahr viermal für zwei Wochen Ferien nach Porto Velho. Sie war ein schönes, schlankes, fröhliches Mädchen mit langen, hellblonden Haaren und einer lustigen Stupsnase. Wenn sie lachte, zeigte sich ein Grübchen in der linken Wange. Und sie lachte gern.
Noch zwei Stunden Flug, dachte sie und lehnte sich zurück. Dann taucht als erstes der Kirchturm von Porto Velho auf, man sieht den Fluß und die breite Schneise, die man in den unendlichen Wald geschlagen hat, um dort eine Stadt zu bauen. Der Hafen mit den breiten Flußbooten, das weiße Krankenhaus, die Kautschukfabrik, die großen Sägewerke und um alles herum der verfilzte Urwald. Aus der Luft sah Porto Velho aus, als habe ein Riese ein Loch in ein grünes Tischtuch gebrannt.
»Werden wir uns in Porto manchmal sehen?« fragte der junge Mann neben ihr. Gloria hob die Schultern.
»Vielleicht.«
Hellmut Peters, Hellmut mit zwei ll – das hatte er extra betont. Wasserbau-Ingenieur in Leticia, seit zwei Jahren in Brasilien, um die Stromschnellen des Rio Javari zu bändigen und Elektrizität aus ihrer Kraft zu machen. 25 Jahre alt, groß, mit mittelbraunen, immer wirren Haaren, als käme er ungekämmt aus dem Bett, etwas verträumten, rehbraunen Augen und einer so jugendlichen, unbekümmerten Frechheit, daß man ihm wenig übelnehmen konnte; am wenigsten, daß er seit vier Wochen um das Internat herumstrich, um Gloria zu sehen.
»Ich werde in Porto viel Zeit haben«, sagte Hellmut Peters. »Das Besprechen der Planungen dauert zwei Tage. Dann kann ich zehn Tage faulenzen. Helfen Sie mir dabei?«
»Kaum!« Gloria blickte aus dem Fenster. Urwald, Urwald, nichts als Urwald. Eine Dunstwolke aus von der Sonne aufgesogener Feuchtigkeit schwebte über der grünen Unendlichkeit. »Ich werde meinem
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