Das Netz im Dunkel
ich die Dinge gelernt hatte, die ich wußte, oder warum ich einiges zu wissen schien, was ich nicht wissen sollte.
Die vielen Uhren, die im ganzen Haus verteilt waren, verwirrten mich noch mehr. Die Standuhren in den Gängen schlugen unterschiedliche Stunden an; die Vögel in den Schweizer Kuckucksuhren hüpften durch ihre kleinen, geschnitzten Türen, und jeder widersprach jedem; die hübsche französische Uhr im Schlafzimmer meiner Eltern war schon vor langer Zeit am Mittag oder um Mitternacht stehengeblieben. Zu meinem großen Kummer gab es im ganzen Haus keine Kalender, auch keine alten. Die Zeitungen kamen nie an dem Tag, an dem sie erschienen. Die einzigen Zeitschriften, die wir besaßen, waren alt und in einem Schrank gestapelt, der oben auf dem Speicher stand. In unserem Haus warf niemand etwasfort. Alles wurde aufgehoben, damit unsere Nachkommen es eines Tages verkaufen und ein Vermögen damit verdienen konnten.
Meine Unsicherheit stand zum großen Teil mit der ersten Audrina in Zusammenhang, die genau neun Jahre vor meiner Geburt gestorben war. Sie war auf mysteriöse Weise im Wald umgekommen, nachdem grausame, herzlose Burschen sie auf unbeschreibliche Art mißbraucht hatten. Ihretwegen durfte ich niemals den Wald betreten, nicht einmal, um in die Schule zu gehen. Dabei waren wir von Wald umgeben, er erstickte uns fast. Auf drei Seiten wurden wir von Bäumen umarmt, auf der vierten verlief der Lyle-Fluß. Wenn wir irgendwohin wollten, mußten wir durch den Wald.
Überall in unserem Haus hingen Fotos von der ersten und unvergessenen Audrina. Auf Papas Schreibtisch standen drei gerahmte Porträts von ihr, mit ein, zwei und drei Jahren. Von mir stand da kein einziges Babyfoto, und das schmerzte mich. Die erste Audrina war ein zauberhaftes kleines Mädchen gewesen, und wenn ich ihre Fotos ansah, wünschte ich mir so sehr, wie sie zu sein, daß es weh tat. Ich wollte so sein wie sie, damit man mich liebhaben konnte, ich wollte etwas Besonderes sein, wie sie es gewesen sein mußte; und dann wieder wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ich selbst zu sein, um meiner selbst willen die Liebe zu erhalten, die mir verweigert wurde.
Oh, die Geschichten, die Papa mir über seine erste Tochter zu erzählen wußte; mit jeder einzelnen von ihnen wurde mir immer bewußt gemacht, daß ich nicht die unvergessene Audrina war, nicht die perfekte und besondere–nur die zweite, minderwertige.
Meine Eltern hegten das Zimmer der ersten Audrina wie einen Schrein für eine tote Prinzessin. Es war nochgenauso wie an dem Tag, der so schicksalhaft für sie geworden war. Aber Genaueres war mir nie darüber erzählt worden. Das Zimmer war so voll von Spielzeug, daß es eher wie ein Spiel- als ein Schlafzimmer aussah. Mammi selbst putzte dieses Zimmer, und dabei haßte sie Hausarbeit. Wenn ich bloß Audrinas Zimmer sah, wußte ich, daß für sie nichts zu gut gewesen war, während in meinem Zimmer viel weniger Spielsachen waren. Ich fühlte mich betrogen, um eine richtige Kindheit betrogen. Audrina, die erste und beste, hatte mir meine Jugend gestohlen, und alle redeten so viel von ihr, daß ich mich an nichts erinnern konnte, was mich selbst betraf. Ich glaubte, daß mein Gedächtnis ihretwegen so viele Lücken auf wies.
Papa versuchte diese Lücken zu stopfen, indem er sich mit mir in ihren Schaukelstuhl setzte und sang, bis ich ›zu einem leeren Krug wurde, der alles in sich aufnahm‹.
Er wollte, daß ich ihre Erinnerungen übernahm, ihre besonderen Kräfte erhielt, denn sie war tot und brauchte sie nicht mehr.
Als wäre ein Geist noch nicht genug, hatten wir noch einen zweiten, der jeden Dienstag um vier Uhr erschien. ›Teestunde‹ nannten wir Tante Mercy Maries Tag. Da hockte sie dann auf dem Klavier, auf ihrem Schwarzweißfoto in dem Silberrahmen; ihr fettes Gesicht strahlte, und ihre blaßblauen Augen starrten uns an, als könnte sie uns wirklich sehen. Dabei konnte sie es nicht. Sie war tot, und doch wieder nicht tot, genau wie meine tote Schwester.
Meine Tante und meine Mutter sprachen dann für Tante Mercy Marie. Durch sie wurden sie all das Böse los, das sie sich extra für die ›Teestunde‹ aufgehoben hatten. Merkwürdigerweise genoß meine Cousine Vera diese dienstäglichen Teestunden so sehr, daß sie immer einen Grund fand, um die Schule zu schwänzen. Nur um all diehäßlichen Dinge hören zu können, die meine Mutter und ihre Halbschwester sich vorwarfen. Sie waren die Schwestern Whitefern, und vor
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