Das Netz im Dunkel
Glück ließen meine Eltern uns selten mit ihr allein. In gewisser Weise schien es so, als würde meine Tante ihre eigene Tochter noch mehr verabscheuen als mich. Ich hatte immer geglaubt, daß Frauen dazu geboren sind, liebevolle Mütter zu werden. Aber wenn ich dann genauer darüber nachdachte, wußte ich nicht, wie ich darauf gekommen war. Mammi liebte es direkt, wenn meine Tante Vera züchtigte, denn dann konnte sie weit die Arme öffnen und Vera trösten, konnte wieder und wieder sagen: »Ist ja schon gut, ich liebe dich, auch wenn deine Mutter es nicht kann.«
»Das ist eben deine Schwäche, Lucietta«, erklärte meine Tante scharf. »Du kannst alles lieben.«
Als wäre ihre eigene Tochter weniger als ein Mensch.
Niemals verriet Tante Elsbeth, wer der Vater ihrer Tochter war. »Er war ein Lügner und Betrüger. Ich will mich nicht an seinen Namen erinnern«, schimpfte sie.
Es war so schwer zu verstehen, was in unserem Haus vorging. Da waren verräterische Strömungen wie in den Flüssen, die ins Meer führten, das nicht sehr weit von uns entfernt war.
Meine Tante war wirklich groß, ihr Gesicht war lang,und sie war knochig, obwohl sie dreimal soviel aß wie meine Mutter. Manchmal, wenn mein Papa ihr gemeine Dinge sagte, preßte meine Tante die Lippen zu einem ganz schmalen Strich zusammen. Ihre Nasenlöcher blähten sich auf, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als hätte sie ihn am liebsten geschlagen–wenn sie nur den Mut dazu gehabt hätte.
Vielleicht war es Tante Elsbeth, die unsere Freunde aus der Stadt davon abhielt, öfter zu kommen. Es mußte doch einen Grund dafür geben, daß sie nur kamen, wenn wir eine Party gaben. Mammi verglich unsere ›Freunde‹ mit Insekten, die aus dem Wald kämen, um sich am Picknick gütlich tun zu wollen. Papa bewunderte und liebte alle Parties, bis sie vorüber waren. Aber aus irgendeinem Grund schimpfte er danach auf Mammi und bestrafte sie für irgendeine Kleinigkeit, die er als gesellschaftlichen Fehltritt bezeichnete, wie zum Beispiel einen gutaussehenden Mann zu lange anzusehen oder zu oft mit ihm zu tanzen. Oh, es war schwer, eine Ehefrau zu sein, davon konnte sie ein Liedchen singen. Man wußte nie genau, was man tun sollte, wie freundlich man sein durfte. Es wurde von Mammi erwartet, daß sie Klavier spielte, um die Leute zu unterhalten, während andere sangen oder tanzten. Aber sie durfte auch nicht so gut spielen, daß einige Leute zu weinen anfingen und ihr später sagten, wie dumm sie gewesen war, zu heiraten und ihre Karriere als Pianistin aufzugeben.
Aber niemals kamen unangemeldete Besucher in unser Haus. Auch Vertreter waren nicht zugelassen. Überall standen Schilder: ›Vorsicht! Bissiger Hund!‹ und ›Betreten verboten! Privatgrund!‹
Häufig, wenn ich zu Bett ging, war ich unglücklich über mein Leben. Ich fühlte Strömungen, die mir die Füße unter dem Leib fortzuziehen drohten, und ich trieb dahin,zum Untergang und Tod durch Ertrinken verurteilt. Es kam mir vor, als hörte ich eine Stimme, die mir flüsternd erklärte, daß es viele Orte gab, zu denen ich gehen mußte. Aber ich ging niemals irgendwohin. Da konnte man Menschen kennenlernen, Spaß haben, aber ich wußte nichts davon. Ich wachte auf und hörte das Klingen der Mobiles, die mir wieder und wieder sagten, daß ich dort war, wo ich hingehörte. Und hier würde ich für alle Zeiten bleiben, und nichts, was ich auch tat, würde am Ende zählen. Schaudernd schlang ich die Arme um meine schmale Brust. In meinen Ohren hörte ich Papas Stimme, die wieder und wieder sagte: »Hierher gehörst du, hier zu deinem Papa, wo du sicher bist, in dieses Haus.«
Warum mußte ich auch eine ältere Schwester haben, die mit neun Jahren starb und jetzt tot in ihrem Grab lag? Warum mußte ich nach einem toten Mädchen benannt werden? Es schien sonderbar, unnatürlich. Ich haßte, die erste Audrina, die unvergessene Audrina, die gute und perfekte Audrina, die nie etwas Falsches tat. Und doch mußte ich sie ersetzen, wenn ich jemals einen festen Platz in Papas Herz erhalten wollte. Ich haßte das Ritual, jeden Sonntag nach der Kirche ihr Grab zu besuchen und Blumen hinzulegen, die wir beim Blumenhändler gekauft hatten. Als wären die Blumen aus unserem Garten nicht gut genug für sie.
Am Morgen lief ich zu Papa, und er hob mich hoch und hielt mich in den Armen, als all die Standuhren in der Halle tickten und tickten. Das ganze Haus war still wie ein Grab, als wartete es darauf, daß der Tod kam
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