Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
2012
Palazzo Vecchio
Florenz
Herr im Himmel, dachte der Mönch und küsste das Kreuz an seiner Halskette, in deine Hände gebe ich meinen Geist und meinen Körper.
Langsam streifte der Mönch die Schlinge über seinen Kopf und zog sie zu. Das Tau rieb an seinem Adamsapfel und drückte im Nacken. Das andere Ende hatte er an dem massiven Schreibtisch befestigt. Er kletterte aufs Fensterbrett. Als er das große Fenster öffnete, flatterte seine schwarze Kutte im Wind. Seine Knie zitterten. Hinter ihm hämmerten die Männer des Kardinals an die Tür, die er mit den Werkzeugkoffern der Handwerker und einer Klappleiter blockiert hatte. Wilde Tiere, dachte er, nichts als wilde Tiere! Eine Taube flatterte herbei, setzte sich auf die äußere Ecke des Fenstersimses und legte den Kopf auf die Seite. Er dachte: Wird Gott in Gnade auf einen elenden Selbstmörder blicken? Er hoffte, dass der Herr Milde walten ließ gegenüber einem gläubigen, hingebungsvollen Mönch, der sein miserables Erdenleben trotz allem in Liebe zu Vater und Sohn und voller Sehnsucht nach dem Paradies verließ.
Im Turm hoch über ihm schlug die Glocke den ersten, schweren Schlag des Nachmittags. Ad maiorem Dei gloriam!, flüsterte er, beugte sich vor und hielt nach denen Ausschau, die er hatte treffen wollen, aber er konnte sie im Gewimmel der Touristen unten auf der Piazza della Signoria nicht entdecken. Sie kamen zu spät. Seine Verfolger waren ihnen zuvorgekommen. Er selbst hatte getan, was er konnte. Er hatte sie zu warnen versucht, hatte sie hierhergebeten – wohin sonst –, um ihnen alles zu erklären. Aber die Zeit war ihm davongelaufen. Sie hatten ihn aufgespürt. Eingeholt. Umzingelt. Jeden Augenblick konnten die Hyänen des Kardinals in den Raum stürmen. Welchen Befehl hatten sie erhalten? Ihn zu töten? Ihm die Zunge herauszuschneiden? Ihn zurück ins Kloster zu schleifen und gemeinsam mit den anderen aufrührerischen Mönchen in eine feuchte Kellerzelle zu sperren? Niemals. Da zog er die milde Gnade des Herrn vor. Ein letztes Mal blickte er über die Piazza. Er sah sie nicht. Dann mussten sie das Geheimnis selbst herausfinden. Das uralte Geheimnis.
S o beginnt die Geschichte. Irgendwo muss sie ja beginnen. Warum also nicht hier? Oder beginnt sie eigentlich an einem ganz anderen Ort, in einer ganz anderen Zeit? Mit Professor Morettis Vortrag am Sonntagabend? Oder doch mit dem Mönch, der sich voll verwirrter Verzweiflung mit einer Schlinge um den Hals aus einem Fenster des Palazzo Vecchio stürzt? Vielleicht beginnt sie aber auch schon vor vielen tausend Jahren in einer Welt, die anders als unsere und doch so gleich war.
Vor einiger Zeit verbrachte ich eine Woche in Florenz. Es war in dieser Woche, als sich alles ereignete. Ich will nach bestem Vermögen von all dem berichten, was in diesen Tagen in Florenz geschah. Dabei kann ich noch nicht genau sagen, wann oder wo diese Geschichte begann. Auch nicht, wo sie aufhört. Noch nicht.
Ich bin seit kurzem wieder zurück in Oslo. In meinem Büro. Für die meisten ist ein Büro ein Arbeitsplatz. Für andere von uns ein Ort der Zuflucht. Eine sichere Höhle. Ein Versteck, in dem man sich verkriechen kann, wenn die Welt einen zu sehr bedrängt. Regale voll schwerer Aktenordner und Fachliteratur. Vergessene Stapel von Papier. Ausdrucke, die man sich irgendwann später anschauen will. Berichte. Eine Tüte mit Quittungen für Dienstreiseabrechnungen, die man vor sich herschiebt. Artikel. Internationale Zeitschriften.
Zurück nach Oslo zu reisen war wie die Rückkehr in eine Wirklichkeit, die ich vergessen hatte. Die schiefen Buchstaben auf meinem Namensschild an der Tür sahen aus wie ein Gebiss, das dringend eine Klammer brauchte. PRI ATDO ENT BJØ N BELTØ . Ich weiß nicht, wer die fehlenden Buchstaben geklaut hat. Vermutlich jemand, der sie dringender als ich braucht. Ein V, ein Z, ein R.
Ich sitze hinter halb geöffneten Jalousetten, die streifiges Licht hereinlassen, und schreibe. Morgen werde ich wieder aufbrechen. Nach Ägypten.
Ich habe einen Anruf bekommen. Aus der Wüste. Von Nick. Sie müssen kommen, hat er gesagt.
Ich habe ein paar Klinikaufenthalte hinter mir. Was mir keineswegs peinlich ist, nicht einen Augenblick! Es kommt vor, dass ich Selbstgespräche führe, auch das räume ich gerne ein. Manchmal wiederhole ich immer wieder meinen eigenen Namen, wie ein Mantra. Ein Ruf in der Nacht. Ein Name ist etwas, woran man sich klammern kann, wenn man droht abzurutschen. Und ich
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