Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa
Einleitung
Mit der Ermordung von über fünf Millionen jüdischer Menschen hat das Dritte Reich und damit die deutsche Nation eine unauslöschliche Schuld auf sich geladen. In der bisherigen Geschichte gibt es kein Verbrechen, das mit der Dimension und der Infamie des Holocaust verglichen werden kann. Jeder Versuch, dieses Geschehen in eine Reihe mit historischen Genoziden zu stellen, ist daher im Ansatz verfehlt. Denn anders als bei den exorbitanten Massenverbrechen, wie sie Timothy Snyder unter dem Begriff der »Bloodlands« zusammengestellt hat, gibt es beim Judenmord keine unmittelbaren Motive, wie etwa ethnische oder soziale Rivalitäten. 1 Insoweit nimmt die Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen in Europa eine Sonderstellung ein.
Die Ermordung von 5,6 Millionen jüdischer Menschen, denen es nicht gelang, sich durch Flucht oder Untertauchen dem Zugriff der Häscher zu entziehen, stellt eine bleibende moralische Last für diejenigen dar, welche die Verfolgung entweder aktiv betrieben oder sie passiv hingenommen haben. Dies betrifft in erster Linie die deutsche Nation, in deren Namen die Vernichtung vollzogen wurde, wenngleich neben den Deutschen Angehörige der osteuropäischen Nationen beteiligt waren, nicht zuletzt die Polen, die Ukrainer, die Rumänen, die Serben und Kroaten. Die Landkarte des Verbrechens ist zu vielfältig, um sie im Einzelnen nachzuzeichnen, sodass unser Interesse vor allem denjenigen gilt, die Morde ersonnen und umgesetzt haben.
Gleichwohl können die ideologischen Wurzeln nicht übergangen werden, welche die abendländische Geschichte begleitet haben. Ihre spezifische Virulenz erhielten sie jedoch in der spätwilhelminischen Epoche, in der sich die tradierte Judenfeindschaft mit völkisch-rassistischen Zügen verknüpfte und damit dem »modernen« Antisemitismus seine aggressive Note gab. Nachdem am Ausgang des Ersten Weltkrieges radikal antisemitische Bestrebungen zunehmend Gewicht erhielten, aber keineswegs auf Deutschland beschränkt waren, fanden sie ihre eigentümliche Zuspitzung in rassistischen Denkhaltungen im Ersten Weltkrieg. Aber ihr Einfluss blieb zunächst begrenzt, verlor sogar an Impetus. Auch wenn sich innerhalb der politischen Rechten antisemitische Tendenzen festsetzten, blieb ihre Verbreitung in der Weimarer Republik eingeschränkt. So zählte der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der den harten Kern des völkischen Antisemitismus ausmachte, zum Zeitpunkt seines 1922 verhängten Verbotes nicht mehr als 220.000 Mitglieder. Die Mehrheit der aggressiven Antisemiten fand sich jedoch nach 1923 in der NSDAP wieder. Die höheren Funktionäre der Partei stammten überwiegend aus den völkischen Verbänden und praktizierten dort weiterhin die eingeübte antijüdische Aggression.
Gleichwohl blieb der Einfluss des völkischen Antisemitismus in der späten Weimarer Republik begrenzt. Die fulminanten Erfolge der NSDAP in den Reichstagswahlen vom September 1930 bis zum März 1933 waren nicht primär ihrer extrem antisemitischen Propaganda zuzuschreiben. Die NS-Propagandaleitung erkannte vielmehr, dass eine weitere Zuspitzung der Judenfrage kontraproduktiv war, sodass die extrem judenfeindliche Propaganda in den Wahlkämpfen zurückgefahren wurde. Andererseits vermied die NSDAP unter dem Einfluss Adolf Hitlers, sich in der konkreten politischen Auseinandersetzung festzulegen, nicht zuletzt in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Als Folge dieser Strategie der Optionsvermeidung fungierte die antisemitische Propaganda als Surrogat für ein inhaltliches politisches Programm der Partei.
Bekanntlich versuchte Hitlers fähigster Gefolgsmann Gregor Strasser, von dem völlig veralteten Programm der 25 Punkte loszukommen und der Partei ein zeitgemäßes Programm zu geben, doch scheiterte dies am Widerstand Hitlers, der darauf bestand, das alte Programm unter keinen Umständen zu ändern. In der Parteipropaganda dominierten leere oder nicht miteinander vereinbare Grundsätze, die mit antisemitischem Inhalt aufgefüllt wurden. Auf diese Weise rückte die Judenfeindschaft in den Mittelpunkt der propagandistischen Rhetorik der Partei und trat an die Stelle konkreter Gegenwartsforderungen. Zusammen mit dem Fehlen konstruktiver Zielsetzungen bewirkte die bewusst geschürte Rivalität zwischen den Funktionsträgern der Partei und angegliederten Verbänden, dass das Schlagwort von der »Lösung der Judenfrage« als Politikersatz fungierte. In dem Sammelsurium von Ressentiments und
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