Das Orakel von Theran
Aberglaube sein, denn vier der Pfade weisen in den Norden. Doch wie auch immer, du hast dein Einhorn auf den Pfad des Geistes gelenkt, und das gilt als gutes Omen.«
Mythor nickte abwesend. »Ich möchte dir ein Geheimnis anvertrauen, Hrobon«, sagte er. »Ich glaube, ich habe eine Berechtigung, das Orakel aufzusuchen. Zumindest deswegen, um mir Gewissheit darüber zu beschaffen, ob ich jener bin, für den ich manchmal gehalten werde.«
Hrobons Augen wurden schmal. »Und für wen wirst du gehalten?«
»Für den Sohn des Kometen.«
Mythor sagte es in der Absicht, dem Vogelreiter sein Vertrauen zu zeigen und dadurch vielleicht einen Freund und Verbündeten zu gewinnen. Darum traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als Hrobon aufschrie.
Der Vogelreiter ließ sein Orhako tänzelnd vor ihm zurückweichen. Auf einmal hatte er seinen Bogen in der Hand, spannte einen Pfeil ein und zielte damit auf Mythor.
»Elender Frevler, was willst du sein?« rief er mit bebender Stimme.
»Ich sagte nur, dass es möglich sei…«, begann Mythor verwirrt, wurde jedoch von Hrobons wütender Stimme unterbrochen.
»Das ist Anmaßung genug!« schrie der Vogelreiter und spannte den Bogen weiter. »Wage nicht zu wiederholen, wofür du dich hältst, sonst durchbohrt dich mein Pfeil.«
»Du kannst mich nicht schrecken«, sagte Mythor. »Du sprachst vorhin von den sieben Säulen der Welt und kannst damit nur die Stützpunkte des Lichtboten meinen. Ich war in fünf von ihnen. Dort habe ich mir meine Tiere, das Schwert und den Helm beschafft. Und man hat mir gesagt, dass es nur dem Sohn des Kometen möglich sei…«
Mythor hielt entsetzt inne, als er den Ausdruck in Hrobons Gesicht sah. Dieser Ausdruck war ihm bekannt, er hatte ihn schon oft bei zu allem entschlossenen Männern gesehen. Hrobon war in diesem Moment bereit, den Pfeil von der Sehne schnellen zu lassen!
»Beim Orakel! Halte ein!« rief da eine Stimme. Hinter einem Gebüsch links von Mythor trat ein älterer Mann in einer Kutte hervor: »Willst du das Schutzrecht verletzen? Was immer dieser Mann getan hat, er hat die Freistätte betreten und ist dadurch unverletzlich. Hier darf ihm nichts Böses widerfahren, und er darf anderen nichts Böses zufügen.«
Hrobon ließ langsam den Bogen sinken und starrte auf den Grenzstein, der zwischen ihm und Mythor lag.
»Ich war wie blind«, sagte er entschuldigend. Dann hob er den Blick und sah Mythor an. Aus seinen Augen sprach unbändiger Hass, als er sagte: »Flehe zum Shallad, dass sich unsere Wege nicht wieder kreuzen. Denn sonst bist du des Todes.« Damit wendete er sein Orhako und ritt davon.
»Fürchte nichts, unbekannter Bruder, hier kann dir nichts geschehen«, sagte der Mann in der Kutte.
»Danke, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Mythor mit belegter Stimme. »Wer bist du?«
»Nur ein unbedeutender Diener des Orakels«, sagte der Alte. »Ich heiße Gorel, aber auch das ist nicht von Wichtigkeit. Ich zähle nichts, so jeder einzelne nichts zählt, wie wichtig er sich selbst auch nimmt. Merke dir das, unbekannter Bruder.«
»Man nennt mich Mythor.«
»Gut denn, Mythor. Was immer dich bedrückt, kehre hier ein und schöpfe neue Hoffnung.«
*
Der Alte in der Kutte ging vor Mythor den Weg entlang, den Hrobon den Pfad des Geistes genannt hatte. Links und rechts davon standen vereinzelt die Bäume mit den Kronen aus großen Lanzenblättern. Sie kamen zu einer hölzernen Brücke, die über einen träge dahinfließenden Bach führte. Dahinter tauchte eine Zeltstadt auf, in der ein buntes Treiben herrschte.
Menschen verschiedener Hautfarben, manche so dunkel wie die Nacht, andere hell wie Eislander, lagerten hier dicht nebeneinander. Sie unterschieden sich nicht nur durch ihre Hautfarbe voneinander, sondern auch durch ihre Kleidung und Haartracht.
»Was sind das für Leute?« erkundigte sich Mythor, und Gorel gab ihm bereitwillig Auskunft.
»Dies sind fast durchwegs Händler«, erklärte der Orakeldiener. »Sie kommen aus den Ländern des Südens und des Nordens und treffen einander hier, um Waren zu tauschen, einander Neuigkeiten zu erzählen und sich gegenseitig zu beraten und Erfahrungen auszutauschen. Theran ist ein wichtiger Knotenpunkt zwischen Nord und Süd.«
»Aber hat Theran seine große Bedeutung nicht wegen des Orakels?« wollte Mythor wissen.
»Bist du darum hier?« fragte Gorel.
Er war stehengeblieben und sah zu Mythor hinauf. Mythor versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch war seine Miene ohne
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