Das Orakel von Theran
Ausdruck.
»Ja, ich möchte das Orakel befragen«, sagte Mythor. »Aber ist das so verwunderlich? Ich dachte, dies sei das Hauptanliegen aller, die nach Theran kommen.«
»Ist dir die Welt so fremd, dass du einen so kindlichen Glauben hast?« fragte Gorel verwundert. »Nicht jedermann kann das Orakel befragen. Es hätte viel zu tun, wenn es Leute in Liebesdingen beraten sollte und Händler in Geschäftsfragen. Wo bliebe dem Orakel dann Zeit, über wichtige Fragen des Lebens zu entscheiden, die Rätsel der Welt zu lösen und die geheimen Dinge zu benennen?«
»Du machst mir nicht gerade Mut, Gorel«, sagte Mythor enttäuscht. »Wie du mit mir sprichst, so scheinst du mir verstehen geben zu wollen, dass ich keine Aussicht habe, zum Orakel vorgelassen zu werden.«
»Von vornherein ist niemand ausgeschlossen«, sagte Gorel salbungsvoll. »Es kommen fast jeden Tag Hunderte von Fragestellern, und keiner wird sogleich abgewiesen. Die Leute nennen ihre Gründe, die von uns Orakeldienern geprüft werden. Zehn von hundert sind es in der Regel, die in die engere Wahl gezogen werden. Sie haben Zeit, in sich zu gehen und sich selbst darüber klarzuwerden, ob ihre Fragen von solcher Wichtigkeit sind, dass sie damit vor das Orakel hintreten wollen. Wir Diener des Orakels helfen diesen Brüdern nach bestem Gewissen, zu sich selbst zurück zu finden. Bei neun von zehn gelingt uns das, und sie verlassen Theran in Frieden mit sich und der Welt, ohne das Orakel gebraucht zu haben.«
»Ich verstehe«, sagte Mythor bitter. »Klingende Münze ist gewiss ein gewichtiger Grund. Ein anderer mag sein, welche Stellung man im Leben hat oder welcher Abstammung man ist. Ich habe nichts von alldem zu bieten, dennoch glaube ich, dass auch mein Anliegen wert ist, vom Orakel gehört zu werden.«
»Dann brauchst du nicht mutlos zu werden«, sagte Gorel. »Finde dich am Tor des Feuers und des Wassers, der Luft und der Erde ein und trage dein Anliegen vor. Mir brauchst du deine Gründe nicht zu nennen, ich glaube auch so, dass wir uns bald im Inneren Orakel sehen werden. Du hast einiges an dir, was weder mit Gold noch mit Stammbaum aufzuwiegen ist.«
»Du meinst gewiss meine Tiere und meine Ausrüstung«, stellte Mythor fest. Sie waren auf ihrem Weg in das Zeltlager gekommen. Links von ihnen trugen braungebrannte Männer in buntgestreiften Gewändern und mit dichten schwarzen Barten gerade ein Zelt ab. Sie hielten in ihrer Tätigkeit inne und starrten finsteren Blicks zu Mythor herüber.
Auch andere Händler unterbrachen ihre Verrichtungen und blickten neugierig zum Einhornreiter. Gespräche verstummten, Verhandlungen wurden unterbrochen, das Stimmengewirr erstarb allmählich. Aller Aufmerksamkeit wandte sich Mythor zu.
»Du erweckst beträchtliches Aufsehen«, stellte Gorel fest. »Für einen Bittsteller ist es jedoch besser, nicht so sehr in den Vordergrund zu treten. Zurückhaltung und Bescheidenheit wären auch für dich ein wichtiges Gebot. Wir haben ein eigenes Gehege für die Tiere. Ich rate dir also, deine tierischen Weggenossen dort unterzubringen. Du bekommst sie später wohlbehalten zurück.« Sie kamen zu einer weiteren Brücke, die über einen Bach führte.
»Wenn du dich nach links begibst und dem Wasserweg folgst, kommst du zum Pfad der Tiere«, erklärte Gorel.
»Diener des Orakels werden dich empfangen und dich in allen Belangen beraten. Es wäre auch klug, deine kriegerische Ausrüstung als Pfand zu hinterlegen. In der Oase herrscht Friede.«
»Was kannst du mir sonst noch raten?« fragte Mythor.
»Zum Orakel führt nur ein Weg, der auf der Straße der Elemente«, sagte Gorel. »Betritt sie, geh sie entlang, und es wird sich alles finden. Ich muss jetzt wieder meinen Pflichten nachkommen.«
Gorel wollte sich abwenden, doch Mythor rief ihm zu: »Noch eine Frage. Hast du am Pfad des Geistes auf mich gewartet, weil mir die Kunde von meinem Kommen vorausgeeilt ist?«
Gorel sah ihn erstaunt an. »Sprichst du deine Gedanken immer so klar aus?«
»Ich bin geradeheraus und erwarte mir auch klare Antworten. Hast du also einen Einhornreiter erwartet?«
Gorel überlegte kurz, dann antwortete er: »Ich hatte eine Eingebung, die mir riet, zum Ende des Pfades des Geistes zu gehen. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich einem den Weg nach Theran zu verstellen hätte, der einen Schatten des Unheils mit sich bringt.«
»Wovor willst du mich warnen? Und warum wolltest du mir den Zutritt verwehren?« fragte Mythor.
»Ich habe nicht
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