Das Paradies ist weiblich
hört, was ich
wissen will, macht sie eine wegwerfende Geste mit der Hand und tanzt weiter.
»Wenn er mit einer anderen geht, ist Schluss«, erläutert sie ihre Geste schließlich. »Ohne Streit, aber es ist Schluss.«
Erstaunt entgegne ich, das widerspräche doch der sexuellen Freizügigkeit, die sie praktizierten. Sie wirft mir ihren einschüchternden
Blick zu, als sei auch ich schwer von Begriff.
»Das ist etwas anderes. Gelegenheitsbeziehungen, das heißt, wenn die Frau nicht immer denselben Mann empfängt, muss man nicht
beenden. Wenn man aber davon ausgehen kann, dass die Frau nur dem einen Mann die Tür öffnet und er nur sie besucht, dann werden
Beziehungen zu anderen Frauen nicht geduldet.«
Jin Sik setzt sich wieder hin und legt die Hände zwischen die Knie.
»Passiert es häufiger, dass der Mann untreu ist?«
»Manche Männer sind bei einer Frau untreu, bei einer anderen nicht.« Und dann fügt sie ohne jeden Schalk hinzu: »Es gibt auch
untreue Frauen, wenngleich |143| das seltener vorkommt, aber Untreue ist nicht auf die Männer beschränkt.«
Sie ist eine reife, attraktive Frau. Während sie erzählt, versuche ich mir die ganze Zeit Tong Shu an ihrer Seite vorzustellen,
es gelingt mir kaum. In ihrem traditionellen Gewand sieht sie einfach nur phantastisch aus.
Ich will wissen, ob sie sich vorgestellt habe, als sie sich so herausputzte, dass Tong Shu es noch einmal bei ihr versucht
und sie ihn dann abblitzen lassen könnte. Als kleine Rache sozusagen, damit er sieht, was er verloren hat. Ich muss die Frage
wiederholen und höre, dass Lei noch einige Erklärungen anfügen muss.
Als sie verstanden hat, worum es mir geht, mustert sie mich von oben bis unten. Der Blick sagt alles. Und dann folgt ein knappes
Nein.
Als der Aufbruch zum Fest naht, kommen sie zu ihrem Lieblingsthema: Wer könnte für heute Nacht der Auserwählte sein?
Mit einem Mal werden die Frauen redselig. Lei kommt mit dem Übersetzen kaum hinterher und aus dem Staunen nicht heraus. Er
hat offenbar noch nie ein Gespräch unter Freundinnen verfolgen dürfen.
Wenn die Mosuo-Frauen keine feste Beziehung haben, stecken Abende wie dieser voller Möglichkeiten |144| und Überraschungen. Li Jien, Non Chi und Jin Sik gehen die Namen potentieller Kandidaten durch und wiegen das Für und das
Wider ab. War eine von ihnen schon mit dem Auserwählten zusammen, spart sie nicht an Bemerkungen, was die andere zu erwarten
hat.
Li Jien serviert heißen Tee und fragt mich, ob ich mitkäme.
»Selbstverständlich.«
Sie stellt die Kanne auf den Tisch und setzt sich neben mich. Lächelnd schiebt sie mein volles Teeglas beiseite, nimmt meine
Hand und drückt sie dreimal.
»Das ist das Zeichen. Wenn du genauso antwortest, also auch dreimal drückst, haben wir eine Verabredung. Dann kannst du mich
in der Nacht aufsuchen und wirst eingelassen.«
»Gibt es einen bestimmten Augenblick, in dem man sich das Zeichen gibt?«
»Getanzt wird im Kreis um ein Feuer. Immer wieder lösen sich die Kreise auf, entstehen neue. Man wartet ab, irgendwann wird
es sich ergeben, dass man die Hand desjenigen zu fassen bekommt, den man im Auge hat.«
»Muss ich warten, bis eine Frau meine Hand nimmt?«
Li Jien lacht. »Ja, so lange musst du warten.«
|145| »Aber sonst muss ich nichts machen oder mich irgendwie verhalten?«
»Nein. Sonst nichts.«
Um im Paradies ein erotisches Treffen zu vereinbaren, wählen die Frauen eine direkte, man möchte fast behaupten, männliche
Form: den Händedruck.
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»Komm, tanz mit, komm.«
Wir befinden uns im Innenhof eines der größten Häuser des Dorfes, in der Hofmitte lodert ein riesiges Feuer. Zwei Männer in
dunklen Hosen und gelben Kasacks achten darauf, dass es nicht ausgeht. Drei Frauen in langen Röcken singen, damit auch die
Herzen Feuer fangen.
»Komm, tanz mit, komm.«
Der Liedtext besteht nur aus diesem einzigen Satz, die Melodie aus hohen, sanften Tönen.
Ungefähr dreißig andere Frauen halten sich an den Händen und drehen sich in einem nicht geschlossenen Kreis um das Feuer.
Ein Musiker mit weißem Hut und Flöte tänzelt hinter ihnen her.
Unter den versammelten Männern herrscht rege Betriebsamkeit. Die einen binden sich ihr Halstuch um, die anderen richten ihren
Ledergürtel. Als sie den Moment für gekommen erachten, fassen sie sich an den Schultern, bilden einen Halbkreis und tanzen
in entgegengesetzter Richtung zu den |147| Frauen, die
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