Das Paradies ist weiblich
Liebesbeziehung räume einem lediglich eine Art Vorrecht auf die Sexualität
des Partners ein, hielte sie jedoch mitnichten davon ab, parallel dazu weitere Besuchsehen zu pflegen, die im Verborgenen
stattfinden. Das hat nichts mit einem betrügerischen Versteckspiel zu tun, man will einfach peinliche Situationen vermeiden.
Begegnen sich offizieller Partner und Gelegenheitsliebhaber (oder »Sexdieb«, wie man ihn gern nennt) dennoch unverhofft, muss
Letzterer weichen.
In Liebesdingen überwiegt bei den Mosuo die Toleranz. Wenn einer es mit dem Besitzanspruch an seine Geliebte übertreibt, wird
er von den anderen als töricht, egoistisch und possessiv verspottet. Und es ist gut möglich, dass die Frau dies zum Anlass
nimmt, die Beziehung zu beenden. Sollten aus |155| einer solchen Situation ernsthafte Konflikte erwachsen, greift das Dorfoberhaupt ein.
Von meinem Platz aus beobachte ich, wie Li Jien sich zurückzieht und wenig später auch Han Tsie – mögen sie glücklich werden.
Plötzlich habe ich eine Idee: Ich bitte Lei, Nan Tsi zu fragen, ob sie ein paar Schritte Tango mit mir tanzen möchte. Das
Lächeln kehrt auf ihr Gesicht zurück.
Gemeinsam brechen wir zum Haus der Matriarchin Yasi Tu Ma auf. Den ganzen Weg über redet Nan Tsi auf mich ein, als könnte
ich sie verstehen. Dann bleibt sie mit einem Mal stehen und schaut mich erwartungsvoll an. Sie ist so beschwingt und begeistert,
dass mir nichts anderes übrigbleibt, als zu nicken. Ohne zu wissen, womit ich mich gerade einverstanden erklärt habe, erreichen
wir meine Unterkunft.
Ich bitte Dorje, die Scheinwerfer des Jeeps anzumachen, und kümmere mich um die Musik. Ich ergreife Nan Tsi Tsumas Hand und
führe sie auf eine imaginäre Bühne. Ich zeige ihr die Grundschritte – die einzigen, die ich beherrsche. Ich wiederhole sie,
bis sie sie allein hinbekommt. Schließlich nehme ich sie in den Arm und tanze mit ihr. Vorübergehende machen halt und gesellen
sich zu uns. Wir tanzen und tanzen.
|156| Es ist schon ein besonderes Erlebnis, morgens um sechs auf der Hauptstraße zu stehen. Es herrscht ein buntes Treiben. Die
Männer verlassen eilig das Gemach der Geliebten, um dorthin zurückzukehren, wo sie hingehören: zu ihren Müttern.
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Meine Zeit in Luoshui neigt sich dem Ende zu. Am Abend bin ich mit Sanshi verabredet. Keinesfalls jedoch möchte ich abreisen,
ohne Yasi Tu Ma zu interviewen. Ein flüchtiger Gruß, das ist das höchste Maß an Aufmerksamkeit gewesen, das sie mir geschenkt
hat. Yasi ist immer auf dem Sprung, selbst während unserer gemeinsamen Abendessen ist es mir nie gelungen, ein Gespräch mit
ihr zu beginnen; sie schlingt ihr Mahl förmlich hinunter, ausgeschlossen, bei dieser Gelegenheit ein paar Worte miteinander
zu wechseln. Essen ist für sie eine leidige Notwendigkeit, für die sie ihre Arbeit unterbrechen muss.
Dass sie gestern Abend jedoch so interessiert – selbstverständlich aus sicherer Entfernung – zu uns herüberschaute, während
wir Tango tanzten, ermutigt mich, sie noch einmal über Lei um ein Interview zu bitten.
»Wenn es schnell geht, ich habe es eilig«, sagt sie erwartungsgemäß.
|158| Ich bin vorbereitet, es kann sofort losgehen.
Yasi trägt eine enganliegende schwarze Hose und ein ebenfalls schwarzes T-Shirt mit Glitzersteinchen; anstelle von Stiefeln
trägt sie Schuhe mit breitem Absatz. Mir fällt auf, dass ich sie noch nie in der Tracht der Mosuo gesehen habe. An ihrer Hüfte
baumelt wie immer das Schlüsselbund. Yasi ist groß und schlank und trägt ihr schwarzes Haar stets zu einem Zopf im Nacken
gebunden.
Sie ist gewillt, mir fünf Minuten ihrer kostbaren Zeit zu gewähren, und schaut mit gehetztem Blick auf die Uhr. Dann stützt
sie die Ellbogen auf die Knie und legt das Kinn in ihre Hände. Es ist das erste Mal, dass ich sie ruhig sitzen sehe. An der
rechten Hand trägt sie ein silbernes Armband, einen Ring an der linken. Um den Hals eine Kette aus Kunstperlen und an den
Ohren große, sehr filigrane Creolen.
Yasi ist erst fünfundzwanzig. Als ihre Mutter befand, dass es an der Zeit war und die Tochter das Zeug dazu hatte, übergab
sie die Leitung des Hofes immer mehr in Yasis Hände.
Ich will wissen, ob es ihr lieber gewesen wäre, wenn ihre Mutter noch ein wenig damit gewartet hätte. Die Frage überrascht
sie, und auf einmal entspannt sie sich. Sie sagt, ja, es sei sehr hart, eine Matriarchin zu sein.
|159| »Dafür haben
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