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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Süskind
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es seiner Auffassung von christlicher Nächstenliebe nicht so eklatant widersprochen hätte.
    Und so säuselte und flötete er denn weiter in den süßesten Tönen und umhätschelte den Kranken und tupfte ihm mit kühlen Tüchern - wiewohl es ihn grauenhafte Überwindung kostete - die schweißnasse Stirn und die glühenden Vulkane der Wunden, und löffelte ihm Wein in den Mund, um seine Zunge zum Sprechen zu bringen, die ganze Nacht hindurch - vergebens. Im Morgengrauen gab er es auf. Er fiel erschöpft in einen Sessel am anderen Ende des Zimmers und starrte, nicht einmal mehr wütend, sondern nur noch stiller Resignation ergeben, auf den kleinen sterbenden Körper Grenouilles drüben im Bett, den er weder retten noch berauben konnte, aus dem er nichts mehr für sich bergen konnte, dessen Untergang er nur noch tatenlos mitansehen musste wie ein Kapitän den Untergang des Schiffs, das seinen ganzen Reichtum mit in die Tiefe reißt.
    Da öffneten sich mit einem Mal die Lippen des Todkranken, und mit einer Stimme, die in ihrer Klarheit und Festigkeit von bevorstehendem Untergang wenig ahnen ließ, sprach er: «Sagen Sie, Maitre: Gibt es noch andre Mittel als das Pressen oder Destillieren, um aus einem Körper Duft zu gewinnen?»
    Baldini, der glaubte, dass die Stimme seiner Einbildung oder dem Jenseits entsprungen war, antwortete mechanisch: «Ja, die gibt es.»
    «Welche?» fragte es vom Bett her, und Baldini riss die müden Augen auf. Regungslos lag Grenouille in den Kissen. Hatte die Leiche gesprochen? «Welche?» fragte es wieder, und diesmal erkannte Baldini die Bewegung auf Grenouilles Lippen. «Jetzt ist es aus», dachte er, «jetzt geht's dahin, das ist der Fieberwahn oder die Todesagonie.» Und er stand auf, ging zum Bett hinüber und beugte sich über den Kranken. Der hatte die Augen geöffnet und sah Baldini mit dem gleichen seltsam lauernden Blick an, mit dem er ihn bei der ersten Begegnung fixiert hatte.
    «Welche?» fragte er.
    Da gab Baldini seinem Herzen einen Stoß - er wollte einem Sterbenden den letzten Willen nicht versagen - und antwortete: «Es gibt deren drei, mein Sohn: Die enfleurage à chaud, die enfleurage à froid und die enfleurage à l'huile. Sie sind dem Destillieren in vieler Hinsicht überlegen, und man bedient sich ihrer zur Gewinnung der feinsten aller Düfte: des Jasmins, der Rose und der Orangenblüte.»
    «Wo?» fragte Grenouille.
    «Im Süden», antwortete Baldini. «Vor allem in der Stadt Grasse.»
    «Gut», sagte Grenouille.
    Und damit schloss er die Augen. Baldini richtete sich langsam auf. Er war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblätter zusammen, auf die er keine einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen tagte es schon. Er war hundemüde. Man hätte einen Priester kommen lassen sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein flüchtiges Zeichen des Kreuzes und ging hinaus. Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief nur sehr fest und träumte tief und zog seine Säfte in sich zurück. Schon begannen die Bläschen auf seiner Haut zu verdorre n , die Eiterkrater zu versiege n , schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf einer Woche war er genesen.

— 21 —
    Am liebsten wäre er gleich weggegangen nach Süden, dorthin, wo man die neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber daran war natürlich gar nicht zu denken. Er war ja nur ein Lehrling, das heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erklärte ihm Baldini - nachdem er seine anfängliche Freude über Grenouilles Wiederauferstehung überwunden hatte -, strenggenommen war er noch weniger als ein Nichts, denn zum ordentlichen Lehrling gehörten tadellose, nämlich eheliche Abkunft, standesgemäße Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er alles nicht besitze. Wenn er, Baldini, ihm dennoch eines Tages zum Gesellenbrief verhelfen wolle, so nur in Anbetracht von Grenouilles nicht alltäglicher Begabung, eines tadellosen künftigen Verhaltens und wegen seiner, Baldinis, unendlichen Gutherzigkeit, die er, auch wenn sie ihm oft zum Schaden gereicht habe, niemals verleugnen könne.
    Es hatte freilich mit der Einlösung dieses Versprechens der Gutmütigkeit gute Weile, nämlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erfüllte sich Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Träume. Er gründete die Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven Parfums bei Hofe durch, bekam Königliches Privileg. Seine feinen

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