Das Pestzeichen
Albert schlug ihr mit seiner flachen Hand voller Wucht ins Gesicht, sodass ihr Kopf zur Seite flog. Entsetzt fasste sich Susanna an die brennende Wange, doch es dauerte nur wenige Herzschläge, dann hatte sie sich gefangen. So schnell, dass Albert es kaum sehen konnte, hob Susanna ihren Rock leicht an und trat dem Mann mit voller Kraft zwischen die Beine, sodass er keuchend in die Knie ging.
»Du elendes Miststück!«, fluchte er schnaufend. Mehr konnte er nicht sagen, denn er sackte stöhnend zur Seite.
»Wage es nie wieder, die Hand gegen mich zu erheben«, sagte Susanna mit bebender Stimme und rannte zur Tür. Bevor sie hinausging, sah sie, wie Agnes zu ihrem Mann eilte und ihm auf die Beine half.
Am Tag danach verlor niemand ein Wort über den Zwischenfall. Nur die Blicke der Tante und des zwölfjährigen Arthur zeigten Susanna, dass sie sie für ihren Mut bewunderten. Albert versuchte dem Mädchen aus dem Weg zu gehen, doch Susanna konnte seine Blicke spüren. Sie tat jedoch, als ob sie das nicht bemerkte, und verrichtete ihre Arbeit, so gut sie konnte.
Als sie zwei Tage später an einem Bachlauf Wäsche wusch, gesellte sich Arthur zu ihr und fragte verschämt: »Kannst du mir den Tritt beibringen?«
Susanna hielt in ihren Bewegungen inne und blickte ihren Vetter nachdenklich an. Dann erklärte sie: »Mein älterer Bruder Johann hat mir verraten, welche Stelle eines Mannes am empfindlichsten ist. Johann wollte, dass ich mich wehren kann, wenn Soldaten über mich herfallen sollten.«
Nachdem sie dem Zwölfjährigen gezeigt hatte, wie auch er sich erfolgreich wehren könnte, ermahnte sie ihn: »Nutze diesen Tritt nur, wenn du angegriffen wirst.«
Der Junge nickte, und das Mädchen wusste, dass er sich daran halten würde.
–·–
Susanna hatte ihre Tante, ihre Vettern und die beiden Mädchen nur ungern verlassen, aber sie war froh, dass die Woche hinter ihr lag und sie ihre Lieben wiedersehen würde. Sie erhob sich vom Ufer des Bachs und wischte sich die Wasserperlen von den Beinen. Frohen Mutes marschierte sie in die Richtung los, wo der elterliche Hof lag.
Sie ging den steilen Stich von Heusweiler über die Felder in Richtung Holzer Wald, als sie glaubte, dass ihr Rauchgeruch in die Nase stieg. Sie blieb stehen und schnupperte. »Da ist sicher trockenes Gras in Brand geraten. Kein Wunder bei der Dürre. Würde es doch nur endlich regnen«, murmelte sie und ging weiter.
Je näher Susanna ihrem Zuhause kam, desto stärker wurde der Brandgeruch. Auf einer Anhöhe blieb sie stehen und legte sich die Hand vor die Stirn, um besser ins Tal sehen zu können. Im selben Augenblick erstarrte sie.
Dort, wo der Bauernhof ihrer Eltern stand, konnte sie hellgraue Rauchsäulen erkennen, die in den Himmel stiegen. Von großer Unruhe getrieben, lief Susanna den Hang hinab, doch ihre Beine schienen ihr nicht gehorchen zu wollen. Sie stolperte, fiel und kullerte den Hang hinab. Ein Schmerz durchzuckte ihren Knöchel, doch sie beachtete ihn nicht, sondern rappelte sich auf und rannte weiter. Sie keuchte und glaubte, ihr Herz würde zerspringen, als es hart in ihrem Brustkorb schlug. Mit jedem Schritt wurde ihre Angst größer. Erst als sie den Hof erreicht hatte, blieb sie stehen und erkannte mit einem Schlag, was geschehen war.
Susanna ging in die Knie und schrie wie von Sinnen.
–·–
Kaum waren ihre Schreie verhallt, rief Susanna die Namen ihrer Eltern und ihrer Geschwister. Keine Antwort. Es war totenstill. Nur das leise Zischen der Glut, die sich durch das Holz des abgebrannten Hauses fraß, war zu hören. Mit zittrigen Knien und vor Entsetzen verzerrtem Gesicht stand Susanna auf und stieg über verkohlte Balken und zertrümmerte Fässer, als sie ihren Hofhund sah, der abgestochen in einer Blutlache lag. Sie sank in die Knie, um das Tier ein letztes Mal zu streicheln, da erblickte sie nackte Kinderfüße, die unter einem rußgeschwärzten Balken hervorlugten. Susanna fuhr in die Höhe und versuchte hastig, das Holz hochzuheben, doch es war glühend heiß, und sie verbrannte sich die Hände. Ohne mit der Wimper zu zucken, überging sie den Schmerz, riss sich von ihrem Rock zwei Stofflappen ab und umwickelte sich damit die Hände. Dann stemmte sie schreiend den Balken zur Seite und fand ihre kleine Schwester Bärbel.
Die Achtjährige schien sie aus weit aufgerissenen Augen anzustarren, doch Susanna wusste, dass das Mädchen tot war. Laut aufheulend kauerte Susanna sich neben Bärbel nieder, nahm sie in den Arm
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