0635 - Das Grab der Sinclairs
Wie lange das Schweigen gedauert hatte, konnte keiner von uns sagen. Jedenfalls hörte ich Suko neben mir stöhnend atmen und bekam auch mit, wie er sich bückte, als wollte er jeden einzelnen Buchstaben, der vom Moos befreit worden war, noch einmal überprüfen.
Er richtete sich wieder auf, nickte, und seine Stimme klang, als hätte sie einen rauhen Belag bekommen.
»Es ist die Insel, John. Wir haben das Grab gefunden!«
Ich gab ihm keine Antwort. Ohne daß ich es selbst richtig merkte, setzte ich mich in Bewegung und begann mit einer Wanderung über den kleinen Inselfriedhof, aus dessen Erde noch die Fragmente einer alten Kapelle hervorschauten, die vor langer, langer Zeit einmal hier gestanden hatte. Die Gräber waren um die Kapelle angelegt worden, um sie kümmerte sich Suko, der noch einmal die freigelegten Namen las.
Ich blieb vor einer Lücke im Buschwerk stehen und ließ meinen Blick über das von kleinen Wellen gekräuselte Wasser gleiten, dem die Sonne einen goldenen Schein verlieh, der in das Blaugrau des Sees nur sehr knapp eintauchte.
Meine Lippen bewegten sich, als flüsternd ein Name aus dem Mund drang. »Sinclair… Sinclair …« Mehr konnte ich nicht sagen, denn meine Kehle saß zu.
Wieso, um Himmels willen? Wie war es möglich, daß ich hier auf der kleinen Insel ein Grab mit meinem Namen fand?
Was hatte ich mit dem Grab zu tun, und wer lag in dieser feuchten, kalten Inselerde?
Ein Ahnherr von mir? Die Spuren deuteten darauf hin, denn nicht grundlos hatte unser Freund Bill Conolly von einem Mann namens Gordon Slane den Tip bekommen, dieser Insel einen Besuch abzustatten. Er mußte das Grab ebenfalls gefunden haben, war aber nun verschwunden. Sein Tipgeber Slane hatte anschließend Gewissensbisse bekommen und um ein Gespräch mit mir nachgesucht. Ich war zu ihm gefahren und hatte einen Toten entdeckt. Selbstmord.
Man hatte mich in der Wohnung niedergeschlagen. Ein Mann, den wir anschließend zusammen mit einem Kumpanen in Slanes Antiquitätenladen wiedergetroffen hatten. Suko und ich hatten die beiden überwältigen und zum Yard schaffen können, wo wir sie hatten laufenlassen müssen, und zwar auf eine Anordnung hin, die von ganz oben gekommen war. Selbst Sir James hatte daran nichts ändern können. Wir waren zu der Überzeugung gelangt, daß die große Politik eine Rolle spielte. Gewisse Drahtzieher wollten nicht, daß jemand hinter ihre Machenschaften kam.
Offiziell sollten wir uns aus dem Fall heraushalten, aber wir dachten nicht daran und waren der Spur gefolgt, die unser Freund Bill Conolly hinterlassen hatte.
Endstation war diese kleine Insel im Loch Awe gewesen, das Grab mit dem Namen Sinclair auf dem Stein, ein wichtiger Beweis, der möglicherweise mit meiner Vergangenheit eng verknüpft war.
Ich hörte Suko kommen und drehte mich nicht um. Er blieb hinter mir stehen. »Ich habe mich umgeschaut, John, aber nichts gesehen. Es gibt keine weiteren Spuren.«
»Das dachte ich mir.«
Er legte eine kleine Pause vor der nächsten Frage ein. »Hast du einen Vorschlag?«
»Im Moment nicht. Du kannst dir vorstellen, wie es in mir aussieht. Ich komme mir vor wie jemand, der von zahlreichen Geheimnissen und Feinden umgeben ist, die alles wissen, aber denjenigen, den es angeht, im Stich lassen.«
»Vielleicht ist es auch ein reiner Zufall und hat im Prinzip mit dir nichts zu tun«, erklärte er.
Ich schaute ihn fast bedauernd an. »Glaubst du das wirklich, Suko?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich auch nicht.«
Suko räusperte sich. »Ich habe mir den Grabstein einmal genauer angeschaut.«
»Und?«
»Nun, ich dachte an den Toten auf dem Boot und nahm mal an, daß er von einer Person getötet worden ist, die man nicht als Mensch bezeichnen kann.«
»Ein Untoter?«
»Eine lebende Leiche, die aus der Inselerde gekommen ist, aus dem Grab mit dem Stein.«
»Hast du etwas gefunden?«
»Keinen Hinweis, John, der Stein ist äußerlich nicht verrückt worden, John.«
»Hast du denn versucht, ihn anzuheben?«
Er lachte leise. »Du kennst mich. Natürlich habe ich das. Er ist leider zu schwer für einen allein.«
Ich begriff. »Du brauchst also Hilfe.«
»Zu zweit könnten wir es schaffen.«
»Gut, versuchen wir es.« Ich schüttelte mich wie ein nasser Hund, der seine Tropfen aus dem Fell entfernen wollte. Die Bewegung war das äußere Zeichen dafür, daß sich meine innere Einstellung ebenfalls gewandelt hatte. Ich konnte hier nicht ewig stehenbleiben, über den See schauen und meinen
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