Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
zurückgesegelt und habt die Katastrophe vorgefunden, und seid der Meinung gewesen, Ihr könntet etwas aus den Ruinen retten? Wie dem auch sei. Vielleicht wäre es besser für Euch gewesen, Ihr wärt auf das erste Schiff gesprungen, das Tar Valon verlässt. Aber ich muss zugeben, die Vorstellung, wie Ihr von Dorf zu Dorf flüchtet und Euch schämt, Euch anderen Schwestern zu zeigen, verblasst neben dem Vergnügen, das ich haben werde, wenn ich Euch leiden sehe. Und jetzt geht mir aus den Augen, bevor ich entscheide, dass es statt Silvianas Riemen doch die Rute sein soll.« Sie warf die weiße Stola auf den Boden, drehte ihr den Rücken zu, ließ Saidar los und rauschte zu ihrem Stuhl, als hätte Alviarin aufgehört zu existieren.
Alviarin ging nicht, sie floh, sie rannte und hatte dabei das Gefühl, den Atem der Schattenhunde im Nacken zu spüren. Sie hatte kaum einen klaren Gedanken fassen können, seit das Wort Verrat gefallen war. Dieses Wort, das in ihrem Kopf widerhallte, wollte sie aufheulen lassen. Verrat konnte nur eines bedeuten. Elaida wusste Bescheid, und sie suchte nach Beweisen. Sollte der Dunkle König sich ihrer erbarmen. Aber das tat er nie. Gnade war nur etwas für jene, die Angst hatten, sich zu irren. Sie hatte keine Angst. Sie war ein Bündel Haut, das bis zum Platzen mit schierem Entsetzen gefüllt war.
Sie floh den Turm hinab, und falls ihr in den Korridoren Diener begegneten, nahm sie sie nicht wahr. Entsetzen machte sie blind für alles, das sich nicht unmittelbar in ihrem Weg befand. Sie rannte den ganzen Weg bis zur sechsten Etage, zu ihrem eigenen Gemach. Zumindest ging sie davon aus, dass es noch ihres war. Die Räume mit dem Balkon, der auf den großen Platz vor dem Turm hinaussah, gehörten zum Amt der Bewahrerin der Chronik. Im Augenblick genügte es ihr, dass sie noch Räume hatte. Und eine Chance, um zu überleben.
Die Möbel waren noch immer die Domani-Stücke ihrer Vorgängerin, helles Holz mit Intarsien aus Muscheln und Bernstein. Im Schlafzimmer riss sie einen der Kleiderschränke auf, fiel auf die Knie und schob Kleider beiseite, um hinten nach einem Kästchen zu suchen, das keine zwei Hände breit war und ihr schon viele Jahre gehörte. Die Schnitzarbeiten auf dem Kästchen waren aufwendig, aber unbeholfen, Reihen unterschiedlicher Knoten, von einem Schnitzer angefertigt, der über mehr Ehrgeiz als Geschick verfügt hatte. Alviarins Hände zitterten, als sie es zum Tisch trug, und sie setzte es ab, um sich die schweißfeuchten Hände an den Röcken abzuwischen. Der Trick, um das Kästchen zu öffnen, bestand darin, die Finger so weit zu spreizen, wie es ging, und vier Knoten gleichzeitig zu drücken. Der Deckel hob sich einen Spalt, und sie warf ihn zurück, enthüllte ihren kostbarsten Besitz, der in ein braunes Tuch eingewickelt war, damit er nicht klapperte, falls eine Dienerin das Kästchen schüttelte. Die meisten Burgdiener würden es nicht wagen, einen Diebstahl zu begehen, aber die meisten bedeutete nicht alle.
Einen Augenblick lang starrte Alviarin das Bündel nur an. Darin war ihr kostbarster Besitz, ein Gegenstand aus dem Zeitalter der Legenden, aber sie hatte noch nie zuvor gewagt, ihn zu benutzen. Nur im schlimmsten Notfall, hatte Mesaana gesagt, in der verzweifeltsten Not, aber was konnte schlimmer als das hier sein? Mesaana hatte behauptet, der Gegenstand könnte Hammerschläge aushalten, ohne zu zerbrechen, aber sie schlug das Tuch mit der gleichen Sorgfalt zur Seite, die sie bei feinem braunem Glas angewandt hätte, und enthüllte ein Ter’angreal , einen leuchtend roten Stab, nicht länger als ihr Zeigefinger, der bis auf ein paar feine, in einem verschlungenen Muster miteinander verbundenen Linien vollkommen glatt war. Sie umarmte die Quelle und berührte dieses Muster an zwei der Verbindungsstellen mit haarfeinen Strängen aus Feuer und Erde. Im Zeitalter der Legenden wäre das nicht nötig gewesen, aber etwas, das man »stehende Ströme« nannte, existierte nicht mehr. Eine Welt, in der fast jedes Ter’angreal von Menschen benutzt werden konnte, die nicht die Macht lenken konnten, erschien jenseits jeder Vorstellungskraft. Warum hatte man das erlaubt?
Sie drückte mit dem Daumen gegen das eine Ende des Stabes – die Eine Macht allein reichte nicht –, ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, lehnte sich gegen die niedrige Lehne und starrte den Gegenstand in ihrer Hand an. Es war vollbracht. Jetzt fühlte sie sich leer, ein großer leerer Raum, in
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