Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
wissen wollten.«
Die Kreatur schwebte auf sie zu, nein, keine Kreatur, der Große Herr, gekleidet in die Haut eines Myrddraal, schwebte auf sie zu. Er ging auf Beinen, und doch konnte man seine Bewegungen nicht anders beschreiben. Die bleiche, in Schwarz gekleidete Gestalt beugte sich zu ihr herab, und sie hätte aus vollem Hals gekreischt, als er mit einem Finger ihre Stirn berührte. Sie hätte gekreischt, hätte sie einen Ton zustande gebracht. Ihre Lungen waren luftlose Säcke. Die Berührung brannte wie ein rot glühendes Eisen. Vage fragte sie sich, warum sie nicht ihr eigenes, brennendes Fleisch roch. Der Große Herr richtete sich auf, und der bohrende Schmerz nahm ab und verschwand. Ihr Entsetzen minderte sich jedoch nicht im Geringsten.
»Du trägst jetzt mein Zeichen, dass du mir gehörst«, knirschte der Große Herr. »Mesaana wird dir jetzt nichts mehr tun. Bis ich ihr die Erlaubnis gebe. Du wirst herausfinden, wer hier meine Kreaturen bedroht und sie mir übergeben.« Er wandte sich von ihr ab, und die schwarze Rüstung fiel von seinem Körper. Alviarin zuckte zusammen, als sie mit einem stählernen Scheppern auf dem Teppich landete, statt sich einfach aufzulösen. Er war in Schwarz gekleidet, und sie hätte nicht sagen können, ob es Seide oder Leder oder etwas anderes war. Seine Dunkelheit schien das Licht aus dem Raum zu saugen. Mesaana kämpfte gegen ihre Fesseln an und wimmerte schrill wegen des Knebels in ihrem Mund. »Geh jetzt«, sagte er, »wenn du deine nächste Stunde noch erleben willst.« Der Laut, den Mesaana ausstieß, steigerte sich zu einem verzweifelten Schrei.
Alviarin vermochte nicht zu sagen, wie sie aus ihren Gemächern herauskam – sie konnte nicht begreifen, wie sie aufrecht gehen konnte, wenn sich ihre Beine doch wie Wasser anfühlten –, aber sie wurde sich bewusst, dass sie durch die Korridore lief, die Röcke bis zu den Knien gerafft und so schnell rennend, wie sie konnte. Plötzlich klaffte der obere Absatz einer breiten Treppe vor ihr auf, und sie konnte gerade noch verhindern, direkt ins Leere zu stürmen. Zitternd sackte sie gegen die Wand und starrte die gewundene Flucht aus weißen Marmorstufen hinunter. In ihrer Vorstellung sah sie sich selbst, wie sie sich jeden Knochen brach, als sie die Treppe hinunterstürzte.
Sie atmete keuchend, in heiseren, kehligen Atemzügen, und griff sich mit zitternder Hand an die Stirn. Ihre Gedanken überschlugen sich, so wie sie auf der Treppe in die Tiefe gestürzt wäre. Der Große Herr hatte sie als die Seine gezeichnet. Ihre Finger glitten über glatte, unverletzte Haut. Sie hatte Wissen immer zu schätzen gewusst – Macht erwuchs aus Wissen –, aber sie wollte nicht wissen, was jetzt in den Gemächern geschah, die sie verlassen hatte. Sie wünschte sich, sie würde nicht wissen, dass dort überhaupt etwas geschah. Aber sie tat es; Mesaana würde eine Möglichkeit finden, sie zu töten, obwohl der Große Herr sie gezeichnet hatte. Der Große Herr hatte sie gezeichnet und ihr einen Befehl gegeben. Sie durfte weiterleben, wenn sie herausfand, wer die Schwarze Ajah jagte. Mühsam richtete sie sich auf und wischte sich mit den Handkanten die Tränen von ihren Wangen. Sie konnte den Blick nicht von den Stufen vor ihr wenden, die in die Tiefe führten. Elaida verdächtigte sie mit Sicherheit, aber wenn sie sie nicht mehr in der Hand hatte, konnte Alviarin noch immer eine Hetzjagd in Gang setzen. Sie musste Elaida nur zu einer Bedrohung machen, die es auszuschalten galt, und sie in die Jagd auf jene mit einschließen, die dem Großen Herrn übergeben werden mussten. Ihr Finger tasteten erneut zittrig nach der Stirn. Die Schwarze Ajah stand unter ihrem Befehl. Glatte, makellose Haut. Talene war da gewesen, in Elaidas Räumen. Warum hatte sie Yukiri und Doesine auf diese Weise angesehen? Talene war eine Schwarze, auch wenn sie natürlich nicht wusste, dass Alviarin ebenfalls eine war. Ob man das Zeichen im Spiegel sehen konnte? War es etwas, das andere sehen konnten? Wenn sie für Elaidas angebliche Jäger einen Plan schmieden musste, würde Talene jemand sein, mit dem man anfangen konnte. Sie versuchte die Route nachzuvollziehen, die eine Botschaft von Herzen zu Herzen genommen haben würde, bevor sie Talene erreichte, aber sie konnte nicht aufhören, die Treppe hinunterzustarren und im Geist ihren Körper zu sehen, wie er immer wieder aufprallte und auf dem Weg nach unten zerbrach. Der Große Herr hatte sie gezeichnet.
KAPITEL
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