Das Rad der Zeit 11. Das Original: Die Traumklinge (German Edition)
auf. »Da bin ich nicht die Einzige.« Sie hatte vor der Morgendämmerung eine weitere Sitzung bei Silviana gehabt, und beim Verlassen des Arbeitszimmers hatte Alviarin wieder vor der Tür gewartet. Für Alviarin war das ein tägliches Ritual, und es war das Gespräch im Novizinnenquartier, und jeder spekulierte über die Gründe dafür. »Meine Mutter hat immer gesagt, weine nicht über Dinge, die nicht geflickt werden können. Das scheint ein guter Rat unter diesen Umständen.«
Rote Flecken tauchten auf Alviarins Wangen auf. »Aber ihr scheint viel zu weinen. Sogar endlos, wie man so hört. Ihr würdet sicherlich fliehen, wenn Ihr könntet.«
Egwene fing ein weiteres Blatt und schüttelte es über dem Holzeimer voller feuchter Blätter zu ihren Füßen ab. »Eure Loyalität zu Elaida ist nicht sehr stark, oder?«
»Wie kommt Ihr darauf?«, sagte Alviarin misstrauisch. Nach einem Blick auf die Roten, die sich jetzt mehr für die Fische als für Egwene zu interessieren schienen, trat sie noch näher heran und lud zu gesenktem Tonfall ein.
Egwene fischte einen langen Grashalm heraus, der den ganzen weiten Weg von den Ebenen jenseits des Flusses gekommen sein musste. Sollte sie den Brief erwähnen, den diese Frau Rand geschrieben und in dem sie ihm praktisch die Weiße Burg zu Füßen gelegt hatte? Nein, diese Information würde sich vielleicht als nützlich erweisen, aber es schien eines jener Dinge zu sein, die man nur einmal benutzen konnte. »Sie hat Euch die Bewahrerinnenstola weggenommen und Eure Buße angeordnet. Das fördert kaum die Loyalität.«
Alviarins Gesicht blieb ausdruckslos, aber ihre Schultern entspannten sich sichtlich. Aes Sedai ließen sich nur selten so viel anmerken. Sie musste unter phänomenalem Druck stehen, um sich so wenig unter Kontrolle zu haben. Sie warf den Roten noch einen schnellen Blick zu. »Denkt über Eure Situation nach«, sagte sie beinahe flüsternd. »Wenn Ihr fliehen wollt, nun, vielleicht findet Ihr ja eine Möglichkeit.«
»Ich bin mit meiner Situation zufrieden«, sagte Egwene.
Alviarins Brauen schossen überrascht nach oben, aber nach einem weiteren Blick auf die Roten – von denen jetzt eine herüberschaute – rauschte sie davon, ein sehr schnelles Rauschen am Rande eines Laufschritts.
Sie tauchte alle zwei oder drei Tage auf, während Egwene irgendeine Arbeit verrichtete, und auch wenn sie niemals offen Hilfe bei einer Flucht anbot, benutzte sie dieses Wort doch häufig, und sie fing an, Frustration zu zeigen, weil Egwene nicht nach dem Köder schnappte. Und es konnte nur ein Köder sein. Egwene vertraute ihr nicht. Vielleicht war es der Brief, der bestimmt dazu gedacht gewesen war, Rand in die Burg zu locken und damit in Elaidas Krallen, vielleicht war es auch die Art, in der sie darauf wartete, dass Egwene den ersten Schritt machte, vielleicht bettelte. Sicherlich würde Alviarin versuchen, dann Bedingungen zu stellen. Aber Egwene hatte sowieso nicht die Absicht, die Flucht zu ergreifen, es sei denn, ihr blieb keine andere Wahl, also gab sie immer die gleiche Erwiderung.
»Ich bin mit meiner Situation zufrieden.«
Alviarin fing an, deutlich hörbar mit den Zähnen zu knirschen, wenn sie das hörte.
Am vierten Tag schrubbte sie auf Händen und Knien blaue und weiße Fliesen, als die Stiefel von drei Männern in Begleitung einer Schwester in aufwendig bestickter, roter Seide an ihr vorbeigingen. Ein paar Schritte weiter blieben die Stiefel stehen.
»Das könnte sie sein«, sagte eine Männerstimme mit illianischem Akzent. »Man hat mich auf sie hingewiesen. Ich glaube, ich werde mit ihr sprechen.«
»Sie ist bloß irgendeine Novizin, Mattin Stepaneos«, sagte die Schwester zu ihm. »Ihr wolltet im Garten spazieren.« Egwene tauchte ihre Bürste in den Eimer mit dem Seifenwasser und kümmerte sich um die nächste Fliesenreihe.
»Glück, stich mich, Cariandre, das hier mag ja die Weiße Burg sein, aber ich bin noch immer der rechtmäßige König von Illian, und wenn ich mit ihr sprechen möchte – mit Euch als Anstandsdame; alles so schicklich, wie es sich gehört –, dann spreche ich auch mit ihr. Man hat mir gesagt, dass sie zusammen mit al’Thor aufgewachsen ist.« Ein auf Hochglanz poliertes Stiefelpaar trat vor Egwene hin.
Erst da stand sie auf, die tropfende Bürste in der Hand. Mit der anderen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Sie nahm davon Abstand, sich das Kreuz zu massieren, sosehr sie es auch wollte.
Mattin Stepaneos war stämmig
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