Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
Stuhl in der Ecke, dessen Sitzfläche von jahrelangem Gebrauch gedunkelt und geglättet worden war. Ein klobiger Schreibtisch, auf dem das dicke Buch der Herrin der Novizinnen lag. Der schmale Tisch direkt hinter Egwene wies ein paar Schnitzereien auf, aber die darauf liegende Lederplatte war viel markanter. Viele Novizinnen – und nicht wenige Aufgenommene – hatten sich über diesen Tisch gebeugt und die Strafe für Ungehorsam ertragen. Die Vorstellung, dass die dunkle Färbung des Tisches von den vielen Tränenflecken herrührte, fiel nicht schwer. Egwene hatte selbst dort viele vergossen.
Aber heute nicht. Nur zwei Tränen, und keine davon war von ihren Wangen gefallen. Nicht, dass sie keine Schmerzen hatte; ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Tatsächlich hatte sich die Intensität dieser Prügelstrafen erhöht, je länger sie sich den Herrschenden in der Weißen Burg widersetzte. Aber als die Strafen häufiger und schmerzhafter geworden waren, war auch ihre Entschlossenheit gestiegen, sie zu ertragen. Noch war es ihr nicht gelungen, den Schmerz zu umarmen und zu akzeptieren, wie es die Aiel taten, aber sie hatte das Gefühl, nahe dran zu sein. Die Aiel konnten noch während der schlimmsten Folter lachen. Nun, sie konnte in dem Augenblick lächeln, in dem sie sich aufrichtete.
Jeden Schlag, den sie ertrug, jeder Schmerz, den sie erlitt, war ein Sieg. Und Siege waren immer ein Grund zur Freude, ganz egal, wie sehr der Stolz oder die Haut auch brannten.
Neben dem Tisch und hinter ihr war auch die Herrin der Novizinnen im Spiegel zu sehen. Silviana starrte stirnrunzelnd auf den Lederriemen in ihren Händen. Ihr altersloses kantiges Gesicht trug einen leicht verwirrten Ausdruck; sie betrachtete den Riemen, wie man vielleicht ein Messer betrachtete, das nicht schneiden wollte, oder eine Lampe, die nicht brennen wollte.
Die Frau war eine Rote Ajah, wie dem Saum ihres schlichten grauen Kleides und der fransenbesetzten Stola auf ihren Schultern abzulesen war. Sie war hochgewachsen und stämmig, und sie trug ihr schwarzes Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Egwene hielt sie größtenteils für eine überragende Herrin der Novizinnen. Obwohl sie sie geradezu lächerlich oft bestraft hatte. Vielleicht auch gerade deswegen. Silviana tat ihre Pflicht. Das Licht wusste, dass es in der letzten Zeit nur wenige in der Burg gab, von denen man das behaupten konnte!
Silviana schaute auf und begegnete Egwenes Blick im Spiegel. Sie legte den Riemen schnell zur Seite und tilgte sämtliche Gefühle aus dem Gesicht. Egwene drehte sich ganz ruhig um.
Silviana seufzte untypischerweise. »Wann wollt Ihr damit aufhören, Kind?«, fragte sie. »Ich muss zugeben, dass Ihr Euren Standpunkt recht bewundernswert bewiesen habt, aber Ihr müsst wissen, dass ich Euch so lange bestrafen werde, bis Ihr nachgebt. Die angemessene Ordnung muss aufrechterhalten werden.«
Egwene ließ sich ihre Verblüffung nicht anmerken. Abgesehen von Befehlen oder Missbilligung sprach die Herrin der Novizinnen sie nur selten an. Aber ihre Fassade hatte auch schon zuvor Sprünge gezeigt …
»Die angemessene Ordnung, Silviana?«, fragte sie. »Wie die, die in der ganzen Burg praktiziert wird?«
Silvianas Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Sie drehte sich um und notierte etwas in ihrem Buch. »Ich sehe Euch morgen früh. Jetzt geht zum Abendessen.«
Die morgendliche Bestrafung würde erfolgen, weil sie die Herrin der Novizinnen mit ihrem Namen angesprochen hatte, ohne am Ende den Ehrentitel »Sedai« hinzuzufügen. Und vermutlich weil sie beide wussten, dass sie keinen Knicks machen würde, bevor sie ging.
»Ich kehre morgen früh zurück«, sagte Egwene, »aber das Abendessen muss warten. Man hat mir befohlen, heute Abend Elaida beim Essen zu bedienen.« Die Sitzung bei Silviana hatte lange gedauert – sie hatte eine ordentliche Liste an Verfehlungen mitgebracht –, und jetzt würde sie keine Zeit zum Essen mehr haben. Ihr Magen protestierte schon.
Einen kurzen Augenblick lang zeigte Silviana so etwas wie ein Gefühl. War es Überraschung? »Warum habt Ihr vorhin nichts davon gesagt?«
»Hätte das etwas geändert?«
Silviana reagierte nicht auf die Frage. »Dann esst Ihr eben, nachdem Ihr der Amyrlin gedient habt. Ich werde der Herrin der Küchen die Anweisung zukommen lassen, Euch etwas zu verwahren. Wenn man bedenkt, wie oft Ihr in diesen Tagen Geheilt werdet, Kind, werdet Ihr Eure Mahlzeiten brauchen. Ich lasse nicht zu, dass
Weitere Kostenlose Bücher