Reise nach Genf
ERSTES KAPITEL
Eigentlich sollte ich schleunigst aus dem Haus rennen, weil der Brotwagen schon wieder abfahren wollte. Aber das ging nicht, weil meine Katze Krümel innige Freundschaft mit einer Hummelfamilie geschlossen hatte. Diese Hummeln hatten ihren Unterschlupf hinter einer Holzlatte, die die Zarge meiner Haustür begradigte. Krümel saß in der offenen Haustür und beobachtete freundlich die Horde, die unter solch mächtigem Schutz in Ruhe aus- und einfliegen konnte. Da kann man nicht hinausrennen und ganz profan nach Brötchen, Eier, Käse und Eifeler Leberwurst schreien. Außerdem ist es eine langjährige feste Abmachung zwischen Krümel und mir: Bei derart wichtigen Dingen hat sich der andere herauszuhalten, bis alles gelaufen ist. Als der Hummelflug nach einer Weile sein Ende hatte, war mein Brot- und Eierlieferant schon im nächsten Dorf. Ich war sauer, und Krümel war zufrieden. Das ist häufig so in diesem Haushalt. Wahrscheinlich würde sie jetzt stolz ins Dorf schleichen und irgendeinen Kater verführen, wie Katzen eben so sind.
Theresa war hinter mir und sagte auf ihre beinahe lautlose Art:
»Ich habe übrigens gestern abend meiner Mutter versprochen, sie heute zu besuchen.«
»Dann mußt du das tun.« Ich drehte mich vorsichtshalber nicht herum. »Ich arbeite an meinem Teich weiter.«
»Es ist vielleicht einfacher für dich, eine Weile allein zu sein«, schlug sie zaghaft vor.
»Das ist möglich«, sagte ich. Vor mir lag immer noch die Sonne auf den alten Pflastersteinen im Hof, hinter mir das Dunkel des Hausflurs. »Wie lange wirst du bleiben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ein paar Tage vielleicht. Ich habe sehr lange nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen.«
»Ist recht«, nörgelte ich unbeteiligt. »Du kannst mich ja anrufen.« Dann ging ich hinaus durch die Sonne in die Garage, holte mir einen Spaten, Spitzhacke und die Schubkarre. Als ich an der Haustür vorbeikam, war Theresa verschwunden.
Ich werkelte so vor mich hin, war aber nicht recht bei der Sache. Ich versuchte, eine Felsnase wegzustemmen, weil ich Furcht hatte, sie würde die Teichfolie einreißen.
Dann stand Theresa da mit ihrem Riesenmatchsack und murmelte: »Es ist wohl aus, oder? Ich störe doch nur, oder? Du willst doch eigentlich alleine leben, oder?«
Ich gebe zu, ich war einfach wütend. Nicht nur auf Theresa, sondern auf die ganze Welt. Wahrscheinlich am meisten auf mich. Ich sagte heftiger, als ich eigentlich wollte: »Du hast sechs Wochen hier mit mir gelebt. Jetzt, wo’s ernst wird, kriegst du Angst und gehst stiften.«
Sie sagte eine Weile gar nichts, dann murmelte sie: »Na ja, ein bißchen ist es schon so, das mit der Angst. Aber ich habe ja auch Erfahrungen gemacht …«
»Ich bin der Neue, nicht schon die Erfahrung«, widersprach ich.
»Hast du Angst?« fragte sie schnell. Sie legte den Matchsack an den Rand der Grube, hockte sich ins Gras und fischte mit den Lippen nach einer Haarsträhne, die der Wind über ihr Gesicht blies.
»Na sicher habe ich manchmal Angst. Ich …«
»Auch Angst vor mir?«
»Das weniger«, sagte ich. »Fahr zu deiner Mutter, sprich mit ihr, ruf mich dann an … na ja, wir könnten eine Pause machen, nicht wahr?«
Sie nickte so ernsthaft wie ein nachdenkliches Kind.
»Pause ist gut«, murmelte sie. Dann stand sie auf, nahm den Matchsack, hing ihn sich über die Schulter, sah mich an, lächelte kurz und gequält und ging. Ich hörte, wie sie den Motor startete und langsam, fast ohne Gas zu geben, vom Hof rollte. Dann gab sie Gas, bremste offensichtlich scharf, gab wieder Gas, trat wieder auf die Bremse, dann schlug ihre Wagentür, und sie bog ohne ihren Matchsack um die Ecke, hockte sich in das sommerdürre Gras und sah mich an. »Es war aber doch sehr schön«, murmelte sie.
»Es war sehr schön«, bestätigte ich verkrampft.
»Weißt du denn, wovor wir Angst haben?«
»Vor den Erfahrungen der alten Art«, sagte ich. »Wir sind zwei alte Krähen mit sämtlichen beschissenen Erfahrungen, die Beziehungskisten so mit sich bringen.«
»Ja«, sagte sie sanft. »Ich wollte das nur wissen. Was wirst du tun?«
»Ich weiß es nicht. Eine Geschichte machen, irgendeine.«
»Watermann?«
»Wahrscheinlich Watermann.«
»Aber niemand wird es drucken, hast du gesagt.« Sie zog einen Grashalm durch ihre linke Hand.
»Wenn das Ergebnis der Beachtung wert ist, wird man es drucken.«
Ich war sehr störrisch, und wenn ich heute überlege, auch ein wenig erschöpft und
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