Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Überraschung wie betäubt, hätte Morgases Gefühl nur in allzu geringem Maße beschrieben. Mit angemessener Würde schritt sie zu einem Stuhl ihm gegenüber und ließ sich nieder, bevor ihre Knie versagten. »Warum solltet Ihr mir helfen wollen, Gaebril hinauszuwerfen?«, wollte sie wissen. Offensichtlich wusste er ohnehin alles; vermutlich hatte er Spione unter Ailrons Bediensteten. »Ich habe doch den Weißmänteln niemals in Andor die Freiheiten eingeräumt, die sie wünschten.«
Diesmal verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. Weißmäntel mochten diese Bezeichnung nicht. »Gaebril? Euer Liebhaber ist tot, Morgase. Der falsche Drache Rand al’Thor hat Caemlyn seinen Eroberungen hinzugefügt.« Lini gab leise etwas von sich, als habe sie sich in den Finger gestochen, aber er wandte den Blick nicht von Morgase.
Was sie selbst betraf, hatte Morgase die Armlehne ihres Stuhls fest gepackt, um nicht für alle sichtbar eine Hand auf ihren Magen zu pressen. Hätte sie den anderen Arm mit dem Pokal nicht auf die zweite Armlehne gelegt, wäre vermutlich Wein auf den Teppich geschwappt, so zitterte sie. Gaebril tot? Er hatte sie getäuscht, sie zu seiner Geliebten gemacht, ihre Autorität untergraben, das Land in ihrem Namen unterdrückt und sich selbst schließlich zum König von Andor ernannt, das noch nie einen König gehabt hatte. Wie konnte es nur nach alledem sein, dass sie immer noch ein schwaches Bedauern empfand, nun nie wieder seine Hände spüren zu können? Es war Wahnsinn. Hätte sie nicht gewusst, dass es unmöglich war, dann hätte sie glauben können, er habe auf irgendeine Weise die Eine Macht benützt, um sie zu beherrschen.
Aber al’Thor hatte Caemlyn nun eingenommen? Das änderte möglicherweise alles. Sie hatte ihn einmal kennengelernt, einen ängstlichen Bauernburschen aus dem Westen, der sein Bestes tat, um seiner Königin den nötigen Respekt zu erweisen. Aber auch ein Jüngling, der das Reiherschwert eines Schwertmeisters trug. Und Elaida war ihm gegenüber misstrauisch gewesen. »Warum bezeichnet Ihr ihn als falschen Drachen, Niall?« Wenn er schon vorhatte, sie beim Namen zu nennen, würde sie auch das einem Gemeinen gegenüber höfliche ›Meister‹ fallen lassen. »Der Stein von Tear ist gefallen, wie es in den Prophezeiungen des Drachen stand. Die Hochlords von Tear haben ihn persönlich zum Wiedergeborenen Drachen ausgerufen.«
Nialls Lächeln war spöttisch. »Überall wo er aufgetaucht ist, waren auch Aes Sedai dabei. Sie gebrauchen die Macht, damit es so scheint, als sei er es, darauf könnt Ihr Euch verlassen. Er ist nicht mehr als eine Marionette der Burg. Ich habe Freunde an vielen Orten« – er meinte natürlich Spione –, »und sie berichten mir, es gebe auch Indizien dafür, dass die Burg den letzten falschen Drachen – Logain – ebenfalls für ihre eigenen Zwecke benützt hat. Vielleicht wollte er am Schluss zu hoch hinaus und sie mussten ihn beseitigen.«
»Dafür gibt es aber keine Beweise.« Sie war froh, dass ihre Stimme fest und selbstsicher klang. Sie hatte auf dem Weg nach Amador gerüchteweise von Logain gehört. Aber das waren eben nur Gerüchte gewesen.
Der Mann zuckte die Achseln. »Glaubt, was Ihr wollt, aber ich ziehe die Wahrheit solchen törichten Einbildungen vor. Würde sich der wahre Wiedergeborene Drache so verhalten wie er? Die Hochlords haben ihn proklamiert, sagt Ihr? Wie viele hat er aufgehängt, bevor sich ihm die anderen beugten? Er ließ den Stein von den Aiel plündern und ganz Cairhien dazu. Er behauptet, Cairhien werde einen neuen Herrscher bekommen – er werde ihn noch ernennen –, aber die einzige wirkliche Macht in Cairhien wird von ihm ausgeübt. Er behauptet auch, in Caemlyn werde bald jemand anders herrschen. Ihr seid tot, wusstet Ihr das? Ich glaube, Lady Dyelin ist im Gespräch. Er hat bereits auf dem Löwenthron gesessen und ihn bei Audienzen benützt, aber ich denke, er war ihm zu klein, da er ja für Frauen angefertigt wurde. Er hat ihn als Siegestrophäe ausgestellt und durch seinen eigenen Thron ersetzt, und das im Großen Saal Eures Königlichen Palastes! Natürlich ist ihm nicht alles gelungen. Einige andoranische Adelshäuser glauben, er habe Euch getötet, und jetzt, da man Euch für tot hält, hat man Mitleid mit Euch. Aber die Teile Andors, die er eingenommen hat, regiert er mit eiserner Faust, mithilfe einer Aielhorde und einem Heer von Banditen aus den Grenzlanden, das ihm von der Burg zur Verfügung gestellt wurde.
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