Das Raetsel der Liebe
sich, einen Schritt zurückzutreten, und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Er musste erreichen, dass es funktionierte. Unbedingt.
»Geht …« Seine Stimme versagte. Er schluckte und versuchte es noch einmal. »Geht es Jane gut? Und deiner Großmutter?«
»Ja. Jane ist … nun ja, wir beide müssen noch herausfinden, wie wir am besten mit der neuen Situation umgehen, aber zumindest ist sie nicht mehr wütend auf mich. Trotzdem wird es noch einige Zeit brauchen, bis sie alles versteht.«
Bedauern schimmerte kurz in ihren Augen auf, als sie sich umwandte, um Tee einzugießen. Schweigend reichte sie ihm seine Tasse und fügte zu ihrem Zucker und Milch hinzu. Alexander wartete, bis sie auf dem Sofa Platz genommen hatte und setzte sich dann in einiger Entfernung auf einen Stuhl. Dort war die Versuchung, sie zu berühren, nicht ganz so groß.
»Wie war es für dich?«, fragte er, »sich ihr gegenüber wie eine Schwester zu verhalten, wo doch …«
Sie hob die Schultern. »Ich gewöhnte mich daran. Nachdem Großmutter entschieden hatte, was wir tun würden, war ich erleichtert. Sie und mein Vater hätten die Kleine weggeben oder uns beide verstoßen können, und ich hätte nichts dagegen tun können. Ich war so dankbar, dass ich Jane behalten durfte, auch wenn wir dafür lügen mussten. Und ich durfte sie ja nicht nur behalten – ich war zudem die ganze Zeit bei ihr. Jane war für mich niemals das Kind von Dr. Cole. Nur meins.«
Sie nippte an ihrem Tee und schaute gedankenverloren aus dem Fenster, als würde sie in ihre Vergangenheit zurückblicken. »Und in jenen Momenten, in denen ich mir wünschte …
sehnlichst
wünschte … sie wüsste, wer ihre Mutter ist, genügte es, daran zu denken, wie leicht man sie mir hätte wegnehmen können. Und trotzdem glaube ich … nein, ich weiß, dass ich ihr immer einen winzigen Teil von mir vorenthalten habe. Das musste ich tun. Bei einer so großen Lüge ist das unvermeidbar. Und so konnte ich für Jane niemals das sein, was ich mir gewünscht hätte. Ich konnte niemals ganz ich selbst sein.«
Sie blinzelte heftig, als sie mit fest aufeinandergepressten Lippen ihre Teetasse abstellte. »Ich weiß nicht einmal, ob das möglich gewesen wäre, noch bevor Jane geboren wurde. Ich war ein seltsames Kind, Alexander. Ich fand so viel Trost in den Zahlen, in deren Reinheit und Nachvollziehbarkeit.
Ich werde meiner Großmutter ewig dankbar dafür sein, dass sie darauf bestand, mein Talent zu fördern. Und doch wünsche ich mir, ich hätte die Menschen ebenso gut verstanden wie meine mathematischen Gleichungen. Denn wäre das so gewesen, hätten die Dinge vielleicht einen ganz anderen Verlauf genommen. Aber wie auch immer, Jane hätte ich um keinen Preis der Welt hergegeben. Erst als ich dich traf …«
Ein Beben lief durch ihre Stimme, und sie verstummte einen Augenblick. Ihr Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an, eine Mischung aus Bedauern und Reue. »Ich gab dem Drängen von Dr. Cole nach, weil ich etwas
fühlen
wollte. Mir war nicht bewusst, dass mein wahres Ich seit der Erkrankung meiner Mutter unter tausend Schichten von mathematischen Berechnungen und Lehrsätzen begraben lag. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ob ich dachte, dass wir uns ineinander verlieben oder nur eine kurze Affäre haben würden. Ich wusste nicht, ob er seine Frau verlassen würde. Alles, was ich wusste, war, dass ich mich … wach fühlte. Zum allerersten Mal in meinem Leben.«
Alexander presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es wehtat. Er hasste und verabscheute den Gedanken, dass Lydia –
seine Lydia
– jemals geglaubt hatte, ihr Glück mit einem anderen Mann finden zu können.
»Aber dann«, fuhr Lydia fort, »wurde mir klar, wie schrecklich falsch das alles war. Ich war wach, aber inmitten eines Albtraums aus Verrat und Falschheit, den wir beide, Dr. Cole und ich, geschaffen hatten. Und so zog ich mich nach Janes Geburt – erst recht nach Janes Geburt, weil ich solche Angst hatte, einen Fehler zu machen – vollkommen in die Welt der Zahlen zurück. Ich wähnte mich dort sicher.«
Wieder schwieg sie eine Weile. »Und viele Jahre lang war alles gut so, wie es war. Ich hatte Jane. Ich hatte meine Arbeit. Aber dann traf ich dich.«
Sie hob den Kopf, und diese unglaublich blauen Augen fixierten ihn mit solcher Direktheit, dass er wusste, er konnte jetzt durch sie bis auf den tiefsten Grund von Lydias entblößter Seele sehen.
»Bis zu diesem Zeitpunkt war mir gar nicht
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