Drei Wünsche
Im Dezember 1773
ie vier kräftigen, gut im Futter stehenden Braunen scharrten ungeduldig mit den Hufen und schnaubten unternehmungslustig, als erwarte sie ein netter Ausflug in die Marsch und nicht Stunde um Stunde harte Arbeit im Geschirr der Postkutsche. Wie immer kurz vor der Abfahrt war das Gedränge auf der Hohen Brücke auch an diesem Samstagmorgen groß. Niemand blickte wie sonst hinunter auf den Binnenhafen, zwischen den Masten der Ewer und Großsegler hindurch auf die weite Insellandschaft südlich der großen Stadt. Dem schönen Ausblick, den man alle Tage und dazu ganz umsonst genießen konnte, hatten alle den Rücken zugewandt, um das Geschehen vor der Poststation zu beobachten.
Die meisten waren nur Neugierige, die fanden sich immer hier oder an den Posten der anderen Linien ein, um zu schauen, wer ankam oder die Stadt verließ, in welcher Kleidung und mit welchem Gepäck, auch in welcher Stimmung, wer von wem abgeholt oder hergebracht wurde. Abfahrten verursachten größere Aufregung bei denen, die sich für lange Zeit verabschiedeten und den Gefahren der Straßen aussetzten, ebenso wie bei den Gaffern, von denen die meisten kaum je weiter gekommen waren als bis nach Altona, Wandsbek oder Bergedorf. Die Vorstellung von dem Land und dem Leben jenseits der Elbe, von Achsenbrüchen, mörderischen Straßenräubern und durchgehenden Pferden rief stets einen wohligen Kitzel hervor, diese überaus anregende Mischung aus Abenteuerlust und Furcht vor Gefahren und dem Fremden ganz allgemein.
An diesem Samstagmorgen warteten alle auf die Abfahrt der Kutsche über Bremen nach Ostfriesland, was nicht so weit war wie Wien oder Antwerpen, Moskau gar, aber auch eine ordentliche Strecke. Die Räder sollten schon seit einer halben Stunde rollen, aber zuerst hatten der Kutscher und der Postillion mit dem Verstauen des Gepäcks auf dem Dach mehr Mühe als gewöhnlich gehabt, was vor allem an einem unerwartet sperrigen, nahezu einer Kommode gleichenden Weidenkorb gelegen hatte, und als endlich alles verstaut war und die Fahrgäste einstiegen, gab es ein neues, höchst seltenes Problem.
Eine Frau von vielleicht dreißig Jahren stand unschlüssig vor der Kutsche, anstatt hurtig einzusteigen. Unter ihrem aus gutem Wollstoff gefertigten burgunderfarbenen Mantelumhang trug sie ein schlichtes Gewand, das dem Dezemberwetter kaum trotzen konnte, ihr glattes rotblondes Haar war streng und schmucklos frisiert, an einer Kordel um ihren Hals hing ein Muff aus Kaninchenfell. Ihre Hände waren Arbeit gewöhnt, das sah man, sie umklammerten ein geknotetes Bündel, über der rechten Schulter der Reisenden hing ein weiteres. Ihr Gesicht war bleich, die Augen dunkel, die Lippen fest aufeinandergepresst.
«Nu’ aber los, Madam», rief der Kutscher vom Bock herunter. «Wir haben schon Verspätung! Einsteigen und los. Oder wir fahr’n ohne Euch. Entscheidet flink, ruck, zuck, wir könn’ keine Zeit mehr vertrödeln, was denkt Ihr bloß.» Und leise in seinen Kragen murmelte er noch: «Blöde Weiber, könn’ sich nie entscheiden.»
Die Frau machte einen Schritt auf die Kutsche zu, ihr Gesicht sah plötzlich sehr jung und verletzlich aus, sie setzte den Fuß auf den Tritt, nahm ihn wieder herunter, setzte wieder an – und wäre nicht just in dem Moment ein sehr junger Mann angerannt gekommen, ganz außer Atem, mit wehendem Mantel, den Hut im Rennen schon verloren und heftig winkend, wer weiß – wahrscheinlich wäre Theda Harling, die unentschlossene Frau vor der Kutsche, eingestiegen, und ihr ganzes Leben wäre anders verlaufen. Wahrscheinlich? Nein, ganz sicher. So ist es eben manchmal, man kann es Zufall nennen. Oder Schicksal? Bestimmung? Am besten, man nennt es einfach das Leben.
«Wartet», keuchte der junge Mann zu dem Kutscher hinauf. «Ich muss auch mit, unbedingt! Es geht, na ja, ich sage mal um Leben und Tod! Ich muss sofort nach Bremen, heute noch, meine ich. Ich MUSS! Und wenn ich der Kälte trotze und auf dem Dach mitfahre.»
«Zu spät», knurrte der Kutscher, der Postillion putzte gelangweilt mit dem Ärmel über sein Horn und setzte es schon mal an die Lippen, er war solche Verzögerungen gewöhnt, die meisten Menschen waren schlecht organisiert. «Der Wagen ist voll», erklärte der Kutscher, «das seht Ihr doch. Wo gibt’s denn so was, kein Billett reservieren und einfach herkommen und ’n Platz fordern? Auf dem Dach», er wies mit dem Daumen hoch zum Kutschendach, wo für gewöhnlich die billigen Plätze
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