Das Reich des Lichts
Windes ist zu hören. Adragón ist verschwunden. Auf dem Pergament liegen die beiden Säuglinge.
„Reyna“, flüstert Papa.
„Señora?“, fragt Mohamed.
Während sich die beiden Männer um Mama kümmern, beugt sich Mahania über die Kleinen.
Mama bewegt sich nicht. Ich glaube, sie ist ohnmächtig geworden.
„Reyna, Liebling, ich bin’s!“, ruft Papa und legt ihr die Hand auf die Schulter. „Kannst du sprechen?“
Sie reagiert nicht. Papa beugt sich über sie, nimmt ihr Handgelenk und fühlt ihr den Puls.
„Neeeiiiiin!“, schreit er verzweifelt.
Mohameds Gesicht verzerrt sich. Ihm ist mit einem Schlage klar geworden, was passiert ist. Mahania tritt näher. Sie hat Alquamed in das Pergament gewickelt und auf den Arm genommen.
„Sie ist tot!“, schreit Papa. „Meine Frau ist tot! Sie hat mich alleingelassen!“
„Sie sind nicht allein, Señor Adragón“, tröstet ihn Mahania. „Hier, Ihr Sohn! Er lebt.“
„Mein Sohn lebt? Aber eben war er doch noch …“
„Die magischen Kräfte des Drachen“, erklärt Mohamed. „Ihr Sohn lebt in Alquameds Körper weiter.“
„Wie ist das möglich?“
„Adragón! Es war Adragón“, wiederholt Mahania. „Sehen Sie Alquamed an.“
Papa wickelt Mahanias Sohn aus dem Pergament. Alquamed fängt an, Arturos Züge anzunehmen. Auf seinem Körper sind die ersten Buchstaben zu sehen.
„Das ist doch nicht möglich!“
„Doch, Señor Adragón, es ist möglich“, antwortet Mohamed. „Es ist soeben geschehen.“
„Das ist mein Sohn? Dann stimmt es also, was Arquimaes behauptet. Er hat die Formel der Unsterblichkeit gefunden! Er hat das Geheimnis der Wiedergeburt beschrieben!“
„Der Körper eines Lebenden nimmt die Seele eines Toten in sich auf“, sagt Mahania. „Jetzt lebt Ihr Sohn im Körper unseres Alquamed weiter. Er wird mit ihm verschmelzen.“
Als ich aus dem Traum erwache, fühle ich mich wie betäubt. Ich kann es noch kaum glauben … Ich war tot und wurde im Körper eines anderen wiedergeboren. Dann bin ich also … Alquamed, der Sohn von Mahania und Mohamed!
„Ist alles in Ordnung mit dir, Arturo?“, fragt Mahania. „Kannst du sprechen?“
„Arturo?“, fragt Metáfora besorgt. „Hörst du mich?“
Ich sehe sie an, als wären sie zwei Fremde. Oder besser gesagt, als wäre ich ein Fremder, der nicht weiß, in welcher Welt er sich befindet.
„Mahania … Bin ich dein Sohn?“, stammle ich.
„Du bist der Sohn von Reyna und Arturo, aber du lebst im Körper meines Sohnes. In Wirklichkeit bist du ein Adragón.“
„Warum habt ihr mir das nicht früher erzählt, Mahania?“, frage ich erstaunt.
„Wir konnten nicht“, antwortet sie. „Aber nun kennst du die Wahrheit, und das ist das Wichtigste.“
„Die Wahrheit! Was ist denn die Wahrheit?“
„Die Wahrheit ist, dass du lebst.“
„Aber ich habe zwei Mütter und zwei Väter!“
„Alquamed existiert nicht mehr“, sagt sie. „Er ist in dir, und du bist in ihm. Aber du bist Arturo Adragón. Das ist, was zählt. Das ist die Wahrheit.“
„Wie kann ich denn weiterleben mit dem, was ich jetzt weiß?“
„Indem du es akzeptierst. Deine Mutter hat ihr Leben gegeben, damit du lebst, und ich habe meinen Sohn zu demselben Zweck hergegeben. Wir beide haben ein großes Opfer gebracht, und du musst es als das betrachten, was es ist!“
„Und was ist es?“
„Ein Akt der Liebe.“
Ihre Argumente sind überwältigend, man kann nichts dagegen einwenden.
Deswegen schweige ich.
Metáfora, die uns aufmerksam zugehört hat, streicht zärtlich über meine Stirn.
„Arturo“, sagt sie, „du bist jetzt fünfzehn Jahre alt, nicht wahr? Alt genug, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wir alle müssen uns so akzeptieren, wie wir sind. Ob es uns nun gefällt oder nicht. Deine Geschichte ist vorherbestimmt, du kannst sie nicht ändern.“
„Es fällt mir aber schwer, sie zu akzeptieren“, entgegne ich.
„Ich weiß. Glaub mir, viele Menschen haben eine komplizierte Lebensgeschichte, aber sie wehren sich nicht dagegen! Und vergiss nicht, du hast magische Kräfte, die andere nicht haben: Adragón, die Buchstaben … die Unsterblichkeit …“
„Werde ich niemals sterben?“
„Das wird sich später herausstellen, aber im Augenblick bist du ein ganz besonderer Junge. Das ist das, was zählt … und was mich stolz auf dich macht.“
Mir wurden in meinem Leben schon viele Lügen aufgetischt, und jetzt habe ich Angst, dass es gerade wieder passiert.
„Mahania, was ist das
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