Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
Wien. Wohl aus gutem Grunde, denn Berichte über humanitäre und soziale Missstände wurden nicht mehr klag- und widerspruchslos hingenommen. Die ungeheure Resonanz auf die Veröffentlichung des Romans «Onkel Toms Hütte» (Harriet Beecher Stowe) in der amerikanischen und britischen Öffentlichkeit hatte zehn Jahre zuvor eindrücklich gezeigt, dass es nur eines kleinen (literarischen) Funkens bedurfte um einer großen sozialen Idee, der Abschaffung der Sklaverei, zum Durchbruch zu verhelfen. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass Joseph von Trotta, der Protagonist eines literarischen Meisterwerkes von Joseph Roth («Radetzkymarsch»), sich zwar bereitwillig als «Held von Solferino» feiern lässt, weil er an ebenjenem 24. Juni 1859 den jungen österreichischen Kaiser todesmutig aus höchster Gefahr gerettet hatte. Innerlich zerbrechen lässt der Autor seinen Helden aber dann daran, dass dieser Akt von selbstloser Pflichterfüllungin einem Schulbuch in heroisierender Weise verfälscht und verklärt wird. Nein, die Realität auf dem Schlachtfeld ist alles andere als ruhmreich und glänzend.
Es war nun aber tatsächlich ein Zufall von historischer Tragweite, dass der 31-jährige Henry Dunant Zeuge der humanitären Katastrophe auf und am Rande des Schlachtfeldes von Solferino wurde. In der Hoffnung auf eine Audienz in einer dringlichen, seine wirtschaftliche Existenz bedrohenden Angelegenheit (Mühlenkonzessionen in Algerien) war der junge Geschäftsmann dem französischen Kaiser Napoleon III. nachgereist und just am Abend der Schlacht in dessen Hauptquartier in Castiglione eingetroffen.
Die Erinnerung an «die erschütternden Szenen» der Tage von Solferino ließ Dunant in den nächsten Jahren nicht los: «Wer könnte jemals die Todeskämpfe dieser schrecklichen Nacht beschreiben?» Henry Dunant konnte es, und dies auf eine Art und Weise, die den Anstoß geben sollte zur wohl größten gesellschaftlichen Massenbewegung der Geschichte (der Rotkreuzbewegung) und zum wohl umfangreichsten und bis heute nicht abgeschlossenen Kodifikationsvorhaben der Rechtsgeschichte (dem Humanitären Völkerrecht). Wie aber konnte diese kleine und in der französischen Erstauflage (Genf 1862) von Dunant aus privaten Mitteln finanzierte Schrift eine derartige Wirkung entfalten?
Dunant versandte die ersten 1600 Exemplare auf eigene Kosten an die höchsten Repräsentanten der politischen, militärischen und intellektuellen Eliten in Europa, darunter den König von Italien, den Kaiser von Österreich, die Königin von Preußen, die Königin der Niederlande, den König von Württemberg, den Prinzen von Hessen. Von Anfang an nämlich wollte er mehr, als eine weitere gelehrte Schrift zur Notwendigkeit einer Humanisierung der Kriegführung zu verfassen. Denn daran herrschte in der Tat kein Mangel. In aufklärerischem Geist, mit intellektuellem Scharfsinn und schriftstellerischer Brillanz hatte etwa bereits genau 100 Jahre zuvor der ebenfalls aus Genf stammende Universalgelehrte Jean-Jacques Rousseau in seinem «Contrat Social» (Gesellschaftsvertrag) formuliert:
«Der Krieg ist […] kein Verhältnis eines Menschen zum andern, sondern das Verhältnis eines Staates zum andern, bei dem die einzelnen nur zufällig Feinde sind […] Da der Zweck des Krieges die Vernichtung des feindlichen Staates ist, so hat man das Recht, die Verteidiger desselben zu töten, solange sie die Waffen in der Hand haben; sobald sie sie jedoch niederlegen und sich ergeben, so werden sie, weil sie aufhören, Feinde oder Werkzeuge des Feindes zu sein, wieder nur Menschen, und man hat kein Recht mehr auf ihr Leben.»
In der Tat war damit bereits ein zentrales Element des intellektuellen Fundaments von Rotkreuzbewegung und modernem Kriegsrecht formuliert worden: die Unterscheidung zwischen kämpfenden Soldaten (Kombattanten) einerseits und Opfern des Krieges andererseits. Praktische Konsequenzen jedoch zog Rousseau aus dieser Erkenntnis nicht, noch fühlte er sich hierfür – ebenso wenig wie seine Zeitgenossen – verantwortlich.
Ganz anders Dunant: Für ihn galt es, die «Mächtigen dieser Welt» durch die Schaffung von Regeln und Institutionen verbindlich auf konkrete Schritte zur Erreichung ebendieses Ziels einer Humanisierung der Kriegführung zu verpflichten. Voraussetzung für den Erfolg dieser Doppelstrategie aber war, so Dunants realistische Einschätzung, dass einerseits der Krieg als legitimes Mittel der Politik nicht prinzipiell in Frage gestellt wurde
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