Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
Gefangener. Und schließlich, drittens, haben sich Religion, Ethik und Moral schon immer mit dem Phänomen der Gewalt auseinandergesetzt und versucht, dem Kriegsgeschehen Grenzen zu setzen: Das berühmte «Auge um Auge, Zahn um Zahn» des Alten Testaments (das sogenannte Talionsprinzip) ist hierfür ein schönes Beispiel: Verhältnismäßig sollte die Reaktion eines Verletzten fortan sein und damit die damals verbreitete, oftmals weit ausufernde Blutrache eindämmen und der Gewalteskalation so Grenzen setzen. Der mittelalterliche Begriff der «Ritterlichkeit» enthielt hier klare Verhaltensregeln ebenso wie der «Bushido», der Ehrenkodex der japanischen Kriegerkaste der Samurai.
Letztlich aber handelt es sich bei all dem doch nur um ermutigende Anekdoten in einem Meer von Blut, Grausamkeit und vor allem Willkür. Stets war es der jeweilige Kriegsherr, der je nach persönlicher Einstellung und allein nach Opportunitätsgesichtspunkten über die Art und Weise der Kriegführung entschied: Die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzritter im Jahre 1099 endete in einem Massaker an der Zivilbevölkerung; bei der Rückeroberung der Stadt 90 Jahre später verschonte Sultan Saladin die Christen vor dem gleichen Schicksal. In irgendeiner Weise geboten oder verboten war weder die eine noch die andere Verhaltensweise. Besonders misslich aber war es, dass keine kulturübergreifend verbindlichen Verhaltensmaßstäbe existierten: Viele Samurai starben wehrlos im Pfeilhagel der mongolischenReiterheere, bevor sie sich überhaupt dem Gegner förmlich vorstellen konnten, so wie es ihr Ehrenkodex vorsah. Für die Römer gab es außerhalb des Reiches nur Barbaren, und eine Maxime wie «Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer» ist auch nicht gerade dazu angetan, das gegenseitige Vertrauen in eine menschliche Kriegführung zu stärken: Vielleicht war es dann doch sinnvoller, die Bleichgesichter zu skalpieren – sicher ist sicher!
Angst vor Rache, Nützlichkeitserwägungen und moralische Skrupel mögen zwar im Einzelfall durchaus wirksame Motive für eine gewisse «Zivilisierung» des Kriegsgeschehens bilden. Das Grundproblem aber – die rechtlich verbindliche und damit verlässliche Formulierung von Mindeststandards legitimer Kriegführung sowie die Schaffung institutioneller Strukturen für deren Respektierung – war damit natürlich nicht gelöst. So war denn noch vor gerade einmal 150 Jahren die Lage der Kriegsopfer – der Verwundeten, Gefangenen und der Zivilbevölkerung – nicht nur von Rechts wegen nach wie vor weitgehend ungeregelt. Sie war vor allem auch in der Praxis von Leiden, Willkür und einem hohen Maß an Gleichgültigkeit geprägt.
Noch immer galt letztlich unangefochten die von Mario Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) in die berühmten Worte gekleidete Maxime: «Silent enim leges inter arma (»Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze«). Der Krieg als rechtloser Zustand also, an dem auch die Ideale von Humanismus und Aufklärung nahezu spurlos vorbeigegangen waren. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die nationalistische Überhöhung des Staates und dessen durchaus unheilige Allianz mit transzendentalen Weihen (»Sterben für Gott und Vaterland«) die Gefährdung des Individuums durch das Kriegsgeschehen sogar noch weiter verschärft. Gegenaufklärerisch restauratives Gedankengut in der Tradition mittelalterlicher «deus lo vult»-Formeln (Gott will es!), wonach der Krieg – und damit eben auch seine Folgen – göttlich sei (Joseph de Maistre), fiel bei den konservativ-reaktionären Entscheidungsträgern der Zeit auf fruchtbaren Boden. Hinzu kam, dass die Ersetzung der teuren professionellenSöldnerarmeen durch dienstverpflichtete Massenheere den für die Kriegführung unverzichtbaren Faktor Mensch enorm verbilligt hatte: Die Zahl der Opfer unter den Soldaten stieg stark an – sie zählten nichts mehr. Die qualitativen Sprünge der Waffentechnik taten schließlich ein Übriges, um den Blutzoll unter den Soldaten, zunehmend aber auch unter der Zivilbevölkerung in bisher unbekannter Weise zu erhöhen.
Andererseits befand sich die (europäische) Staatengesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts aber auch in einer für das Anliegen einer Humanisierung der Kriegführung günstigen Umbruchphase: Durch die Ersetzung der Söldner- durch Volksheere war das Phänomen «Krieg» mit all seinen grausamen Begleiterscheinungen mitten in der sich zunehmend emanzipierenden und auf Machtteilhabe drängenden
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